Wie die Kinder zu ihren Namen kamen
Für angehende Eltern gehört neben vielem anderen, was für die Ankunft ihres erwarteten Sprösslings an Vorbereitungen zu treffen ist, auch die Bestimmung eines passenden Namens, der ihren Vorstellungen entspricht und später hoffentlich auch die Erwartungen ihres Kindes erfüllt, das ihn ein Leben lang tragen soll. Bei der nahezu unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten, aus denen man heute wählen kann, ist die Entscheidung nicht immer ganz einfach.
Diese Qual der Wahl hatten unsere ferneren Vorfahren nicht. Von Vielfalt bei den in Frage kommenden Vornamen konnte keine Rede sein und welchen das Neugeborene dann erhielt, ergab sich praktisch von selbst. Denn bis 1840 wurden die Kinder in Güntersleben auf den Namen ihrer Paten getauft. Das war so selbstverständlich, dass die Pfarrer es bis 1686 in der Regel gar nicht für nötig erachteten, bei der Beurkundung der Taufe den Namen des Kindes anzugeben. Eingetragen wurden nur die Namen des Vaters und des Paten oder der Patin. Damit war klar, wie das Kind genannt wurde. Dass auch der Name der Mutter damals nur selten eingetragen wurde, war dem Zeitgeist einer patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft geschuldet.
Weil sich die Eltern die Paten und Patinnen für ihre Kinder üblicherweise im Dorf suchten, wurden über diese auch immer wieder die im Dorf kursierenden gleichen Namen weitergegeben. Deren Zahl war und blieb damit überschaubar. In den 250 Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen in den Pfarrmatrikeln im Jahr 1592 bis 1840 kamen in Güntersleben etwas mehr als 5600 Kinder zur Welt. Die Jungen teilten sich 61 und die Mädchen sogar nur 36 verschiedene Vornamen. Und davon waren bei den Jungen bis 1800 schon 60 und bei den Mädchen 35 schon in Gebrauch. In den folgenden 40 Jahren wurde also jeweils nur ein neuer Vorname eingeführt.
In einem katholisch geprägten Dorf, in dem die Kirche das öffentliche und private Leben maßgeblich bestimmte, kamen für die Täuflinge natürlich nur die Namen von Heiligen in Frage. Zu den Namen, die einem dabei die ganze Zeit über besonders häufig begegnen, gehören Michael, Georg, Andreas, Nikolaus sowie Margaretha, Barbara und Katharina. Das waren aber noch nicht die absoluten Spitzenreiter.
Bei den männlichen Vornamen war das Johann. Jeder sechste Junge wurde während der genannten 250 Jahre auf den Namen Johann getauft. Viel öfter noch wurde dem eigentlichen Rufnamen wie Georg, Michael oder Peter der Name Johann vorangestellt. Auf diese Weise führte über die Hälfte aller Männer im Dorf Johann als einen seiner Vornamen. Bei den weiblichen Vornamen standen Maria und Anna ganz oben. Aber nicht als Einzelnamen, sondern in Verbindung mit einem weiteren Namen oder – besonders beliebt – in Kombination miteinander als Anna Maria. Mindestens einer der beiden Namen gehörte damit bei den meisten weiblichen Dorfbewohnern zu ihren Vornamen.
Diese über die Jahrhunderte unveränderten Gepflogenheiten fanden ein abruptes Ende, als 1841 mit Alexander Sturm ein junger Pfarrverweser vorübergehend als Seelsorger nach Güntersleben beordert wurde. Mit seinem Vornamen scheint ihm eine ausgeprägte Vorliebe für die griechisch-römische Antike in die Wiege gelegt worden zu sein. Und die wollte er auch den Günterslebenern nahebringen. Unerschrocken, wie er sich auch in seiner sonstigen Amtsführung zeigte, und obrigkeitshörig, wie seine Pfarrkinder damals noch waren, schaffte er es, dass die jungen Eltern (oder Väter), die eine Taufe anmeldeten, Namen für ihre Kinder akzeptierten, von denen sie bis dahin vermutlich noch nie gehört hatten. Man kann sich gut vorstellen, wie den Kindern zumute war, die dann als Fides, Nympha, Flora, Secunda, Cyrinus, Polycarp, Hilarius und anderen – auch heute noch recht ausgefallen anmutenden – Namen mit den anderen Dorfbewohnern leben mussten. Nur einzelnen sturen Bauernschädeln gelang es, den ihren Kindern zugemuteten exotischen Namen erfolgreich abzuwehren.
Nach einem Jahr endete die Amtszeit des Pfarrverwesers Sturm und fast vermeint man ein erleichtertes Aufatmen zu spüren, wenn man im Taufregister wieder die althergebrachten Vornamen liest. Wie eh und je wurden die Kinder wieder nach ihren Paten oder Patinnen benannt.
Zwei Jahrzehnte später war es wieder ein Pfarrer, der einen neuen Versuch unternahm, den Kreislauf der ewig gleichen Namen zu durchbrechen. Anton Wehner, von 1859 bis 1862 Pfarrer in Güntersleben, ging aber dabei behutsamer und mit mehr Einfühlungsvermögen vor. Die neuen Namen wie Alfred, Eberhard, Bruno, Gottfried, Hedwig oder Johanna, die während seiner Amtszeit in Gebrauch kamen, passten schon eher zum Dorf. Und siehe, auch einige der von Alexander Sturm eingeführten Namen fanden offenbar mit der Zeit Gefallen. Mechthild, Alois, Martina, Felix, Antonia sind nicht wie die meisten anderen mit dem Tod ihrer Träger wieder in Vergessenheit geraten.
MIttlerweile trennte man sich allmählich auch von der Übung, den Kindern die Namen ihrer Paten zu geben. Stattdessen ging man dazu über, den Kindern den Namen ihres Paten als zweiten Vornamen zu geben, wie das bis heute noch oft geschieht.
03/2022