Das Armenhaus
„Dahier besteht ein Armenhaus. In diesem sind untergebracht: 6 männliche und 7 weibliche Personen. Unter diesen sind 3 einzeln lebende Personen, 1 Familie mit 2 Personen, 2 Familien mit je 4 Personen.“ So berichtete die Gemeindeverwaltung Güntersleben in einem Schreiben vom 21. Januar 1875 an das Königliche Bezirksamt Würzburg. 13 Personen in den wenigen mehr als bescheiden eingerichteten Zimmerchen im Erdgeschoss und unter dem Dach des Hauses am Kuhhaug. Nicht immer waren es so viele. Es konnten aber zeitweise auch noch mehr sein.
Bevor es ein Armenhaus gab
Einen gesetzlichen Anspruch auf öffentliche Unterstützungsleistungen, wenn man in Not ist, gibt es bei uns seit 1787. In seiner Verordnung über die Armenpolizei auf dem Lande bestimmte Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal, dass alle Gemeinden eine Ortsarmenkommission einzurichten hatten, die sich um die Hilfsbedürftigen im Dorf kümmern sollte. Es galt der Grundsatz, dass jede Gemeinde ihre Armen selbst zu versorgen hatte.
Soweit es um Hilfen für den Lebensunterhalt, Nahrung und Kleidung geht, sind dafür inzwischen die höheren kommunalen Ebenen zuständig. Für die Unterbringung von obdachlosen Ortsbewohnern sind heute wie früher die Gemeinden verantwortlich. Bei den beengten Wohnverhältnissen in vergangener Zeit war das oft noch um einiges schwieriger als es nach wie vor ist.
Im Februar 1818 berichtete die Gemeinde an ihre Aufsichtsbehörde, das Kgl. Landgericht Würzburg, dass sie sich nicht in der Lage sehe, einem 48-jährigen Ortsbewohner nach der Verbüßung einer Strafhaft eine Wohnung zu verschaffen. Vehement widersprach sie dessen Behauptung, dass hier „leere Häuser vorhanden wären, indem manche Einwohner mit Weib und Kindern im Miethzinse herumziehen müssen“.
In einem anderen Bericht vom Juni 1820 teilte die Gemeinde dem Kgl. Landgericht mit, dass sie „ganz außer Stand gesetzt“ sei, einer jungen Familie, die ihre bisherige Wohnung räumen sollte, ein anderes „Quartier anzuweisen“. Das ließ das Landgericht nicht gelten. Da die Gemeinde den Familienvater als Bürger angenommen habe, habe sie auch „für die Unterkunft desselben und seiner Familie zu sorgen.“ Schroff wies es die Gemeinde an, die Familie „heute noch zur Vermeidung von 10 Talern Strafe entweder in einem Gemeindehause oder in der Wohnung eines Privatmannes unterzubringen.“ Sei die Familie nicht in der Lage, ein angemessenes „Hauswirtsgeld“ zu zahlen, müsse die Gemeinde dafür haften.
Das Rathaus wird Armenhaus
An Gemeindehäusern gab es damals neben dem alten Schulhaus am Kirchplatz nur das Rathaus, 1733 beim Aufgang zur Kirche an der heutigen Josef-Weber-Straße gebaut (das spätere Frühmessnerhaus). Ob die genannte Familie schon damals dort untergebracht wurde oder wie in anderen Fällen eine Wohnung bei einem privaten Eigentümer angemietet werden musste, ist nicht bekannt.
1838 baute die Gemeinde ein neues Schulhaus am Kirchplatz, das heutige Kolpinghaus. Die Gemeindeverwaltung zog in das frei gewordene alte Schulhaus um, das wir heute als Altes Rathaus kennen. Im Dezember 1839 beschloss der Armenpflegschaftsrat, „daß sämtliche hier vorfindliche Arme, um die merklichen Hausmieten zu beseitigen, in dem ehemaligen Gemeinde-Rathaus mittels Einrichtung einer Küche auf Kosten der Gemeinde, sollen untergebracht werden. Es wurde daher Gemeindepfleger angewiesen, diese nötige Einrichtung unverzüglich herstellen zu lassen und sodann die Armen dahin unterzubringen.“ Welche und wie viele Familien und Alleinstehende Aufnahme fanden, wurde nicht aufgezeichnet. Für ein gutes Jahrzehnt war jedenfalls das ehemals erste Rathaus am Aufgang zur Kirche jetzt das erste Armenhaus von Güntersleben.
Das Armenhaus am Kuhhaug
Zu den ältesten Einrichtungen der Gemeinde, schon vor 1600 erwähnt, gehörte das Hirtenhaus am Kuhhaug. 1727 und dann ein weiteres Mal 1810 neu gebaut, handelt es sich um das erste Haus auf der linken Seite am Anstieg der heutigen Neubergstraße. Wie der Name sagt, diente das Haus den Gemeindehirten als Unterkunft. Die meist von auswärts kommenden Hirten wurden von der Gemeinde, in der Regel immer für ein Jahr, verpflichtet und hatten die Aufgabe, allmorgendlich das Vieh der Bauern – Kühe, Schweine, Ziegen, Gänse – in die umliegenden Wälder und auf die brach liegenden Felder zur Weide zu treiben und zu hüten. Mit dem Aufkommen der Stallviehhaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brauchte man keinen Hirten mehr und damit auch kein Hirtenhaus mehr.
In der Gemeinderechnung von 1852 findet sich eine Zahlungsanweisung über eine größere Summe an einen Schreiner für Arbeiten im Hirtenhaus, das „nun den Armen zur Bewohnung eingeräumt“ ist, wie auf einem Zusatz vermerkt ist. Das Hirtenhaus wurde damit in diesem Jahr zum Armenhaus der Gemeinde, das es für die nächsten mehr als 100 Jahre bleiben sollte.
Die Bewohner des Armenhauses
Wer einen Wohnplatz im Armenhaus haben wollte, der musste sich an die Ortsarmen-Kommission oder den Armenpflegschaftsrat oder Fürsorgeausschuss wenden, wie diese später mehrfach umbenannt wurde. Dem Gremium gehörten der Pfarrer als Vorsitzender, der Ortsvorsteher oder Bürgermeister und weitere Vertreter der Gemeinde an. Zu denen, die mit ihrem Aufnahmebegehren Gehör fanden, gehörten alleinstehende Personen, die niemand hatten, bei dem sie wohnen konnten, Witwen und Witwer oder unverheiratet gebliebene Männer und Frauen. Aber auch Familien mit Kindern lebten auf engstem Raum mit anderen Bewohnern im Armenhaus, verlassene Ehefrauen mit ihren Kindern; manchmal hatte man gleichzeitig auch noch eine eigene Kammer für den arbeitsscheuen Ehemann, der seine Familie im Stich gelassen hatte. Meistens aber war es Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Alter, die auch manche ältere Ehepaare ins Armenhaus brachte, wenn sie ohne Kinder waren, die sie versorgen konnten.
1876 zog Margareta Dorsch, die Frau des verarmten früheren Mühlenbesitzers, mit ihren Kindern in das Armenhaus und lebte wie die meisten Mitbewohner von Unterstützungsleistungen aus der Armenkasse. Nachdem 1884 auch ihr Mann hinzugekommen war, starb sie im Jahr darauf mit 53 Jahren im Armenhaus. Was aus dem zwei Jahre jüngeren Müller Albrecht Dorsch dann wurde, ist nicht bekannt.
Langzeitbewohner
Auch viele andere wohnten bis an ihr Lebensende im Armenhaus, wenn sie nicht vorher Aufnahme als Pfründner auf einen der drei für Güntersleben vorbehaltenen Heimplätze im Juliusspital fanden.
Verbesserten sich die Lebensumstände von Armenhäuslern, wie man die Bewohner im Dorf nannte, so dass sie wieder selbst oder Angehörige für sie sorgen konnten, dann mussten sie das Haus verlassen oder eine Miete zahlen, wenn der Platz nicht für dringender Bedürftige benötigt wurde. Wo das für zumutbar erachtet wurde, konnte jemand auch zu Arbeitsleistungen verpflichtet werden, um seinen Aufenthalt mitzufinanzieren. Der Armenhäusler Peter Schmitt wurde im Frühjahr 1890 von der Gemeindeverwaltung zum Gänsehirten bestellt. Nach der Drohung mit einer Anzeige zum kgl. Bezirksamt erklärte er auch, „den Dienst annehmen zu wollen.“ Im gleichen und nochmals im darauffolgenden Jahr wurde dem Armenhausbewohner Adam Köhler aufgegeben, im Wald das Holz für die Beheizung der Kinderbewahranstalt zu machen, „um ihm Beschäftigung und Verdienst zu geben.“ Auch er war damit einverstanden.
Nicht jeder war aber bereit, den Anweisungen der Gemeinde gleich Folge zu leisten, vor allem wenn es darum ging, den Platz im Armenhaus freizugeben. Im Juni 1908 verlangte die Gemeinde von den beiden verheirateten, einer geregelten Arbeit aber nicht sehr zugetanen Armenhausbewohnern, dem 37-jährigen Büttner Michael Keß und dem 39-jährigen Tüncher Michael Sendelbach, da sie „jung und kräftig sind, ihre Familien selbständig zu ernähren“, sich innerhalb von vier Wochen nach einer anderen Wohnung umzusehen. Keß wohnte mit seiner Familie im Armenhaus, Sendelbach lebte getrennt von Frau und Kindern, die später auch ins Armenhaus aufgenommen werden mussten. Trotz Drohung mit einer Anzeige blieb die Aufforderung in beiden Fällen erfolglos. Alle paar Jahre nahm die Gemeinde einen neuen Anlauf, die unerwünschten Bewohner aus dem Haus zu bringen. Doch die dachten nicht daran, ignorierten auch die angekündigten Strafanzeigen und Zahlungsaufforderungen und lebten noch viele Jahre bis ans Ende ihrer Tage im Armenhaus. Michael Sendelbach starb 1930 und Michael Keß 1949.
Lediglich bei den Zimmergenossen von Sendelbach, die aber nicht seine Familienangehörigen waren, scheint die Gemeinde erfolgreicher gewesen zu sein. Im Januar 1920 wurde festgestellt, dass Sendelbach in seinem Zimmer „Stallhasen unterhält“. Er wurde angehalten, „die Stallhasen sofort herauszunehmen“. Offenbar mit Erfolg.
Strenge Hausordnung und bescheidene Ausstattung
Generell wurde streng darauf geachtet, dass sich die Armenhausbewohner ordentlich benahmen. In einer seiner allmonatlichen Sitzungen im Februar 1901 beschloss der Armenpflegschaftsrat, dass dem Armenhausbewohner Adam Jäger „wegen ungezogenen Betragens die bisher im Turnus bezogene Kost auf 14 Tage entzogen werden“ soll. Der gute Mann musste sich während dieser Zeit wohl etwas von den Mitbewohnern schnorren, sofern er nicht andere Wege fand, seinen Hunger zu stillen.
Auch die rigide Hausordnung, die der Armenpflegschaftsrat 1914 in Kraft setzte, sah für Zuwiderhandlungen neben anderen Strafen „die Entziehung der Kost oder des weichen Lagers“ vor. Weiter heißt es dort: „Die Inwohner haben untereinander Ruhe und Frieden zu bewahren und einen anständigen gesitteten Lebenswandel zu führen, Lärmen, Schreien und Schelten ist verboten.“ Sie haben „im Winter spätestens um 9 Uhr, im Sommer um 10 Uhr das Licht zu löschen und sich zu Bett zu begeben.“ Über allem galt, dass die Armenhausbewohner „den Anordnungen des Vorstandes des Armenpflegschaftsrates oder seines Stellvertreters allezeit unausweichlich Folge zu leisten“ haben.
Bei der Ausstattung und Erhaltung der Einrichtung im Armenhaus hielt sich die Gemeinde sehr zurück. Nicht selten bedurfte es erst einer Aufforderung der Aufsichtsbehörde, dass man die schlimmsten Missstände beseitigte. Da ging es um Öfen, die eine Brandgefahr darstellten. Eine schadhafte Treppe wurde erst nach einer Weisung von höherer Stelle ausgebessert. Notwendige Reparaturen unterblieben unter Hinweis auf fehlende Arbeitskräfte.
Das Armenhaus hat ausgedient
Gerade in der Zeit nach dem Ende der beiden Weltkriege war der Andrang auf freie Plätze im Armenhaus groß. Als jedoch seit den 1950er Jahren die Wohnungsnot allmählich zurückging und gleichzeitig die Ansprüche an den Wohnkomfort wuchsen, sah die Gemeinde immer weniger Bedarf an die Vorhaltung eines Armenhauses. Schließlich verkaufte sie 1970 das Haus zu einem damals marktüblichen Preis an den Mieter, der seit einigen Jahren mit seiner Familie das Haus bewohnte.
11/2023