Große Sünder und kleine Sünder
Zu schnell gefahren und falsch geparkt
1000 und mehr Briefe verschickt das Rathaus jedes Jahr an motorisierte Verkehrsteilnehmer, die bei diesen regelmäßig wenig Freude auslösen. Geht es darin doch um Verwarnungs- oder Bußgelder, meist für zu schnelles Fahren auf den Ortsstraßen oder auch für das Abstellen der Blechkarossen an Stellen, wo das nicht erlaubt ist. Besonders die Gehsteige scheinen auf manche Autofahrer und Autofahrerinnen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben. Wenn man dann dafür zur Kasse gebeten wird, ist der Ärger garantiert. Je nachdem, was man von Verkehrsregeln hält, über die Gemeinde oder richtigerweise über sich selbst, weil man wieder einmal nicht aufgepasst hat.
Kein neues Thema
Den Ärger mit zu schnellen oder falsch geparkten Fahrzeugen gibt es jedoch nicht erst, seit diese mit Motorkraft über die Straßen bewegt werden.Am 8. Oktober 1848 belegte die Gemeinde Güntersleben den Müllermeister von Retzstadt mit einer Geldstrafe, weil er mit seinem Pferdefuhrwerk „ohne Hemmen die Langgasse hinunter gefahren“, also zu schnell unterwegs war. Um wieviel er zu schnell war, wurde nicht amtlich ermittelt. Es gab ja noch keine Radarkontrollen, ja nicht einmal Schilder, die anzeigten, wie schnell man unterwegs sein durfte. Er war einfach zu schnell, nach dem Eindruck anderer Verkehrsteilnehmer oder Anwohner. Zu den Anwohnern an der Langgasse gehörte auch der damalige Ortsvorsteher, wie der Titel des Bürgermeisters da noch lautete.Der Müller aus Retzstadt war nicht der einzige, dem das widerfuhr. Auch so mancher Bauer aus Güntersleben musste seinerzeit löhnen, weil er in der Langgasse das „Hemmen“ vergessen hatte.
Auch der „ruhende Verkehr“, wie man heute im schönsten Amtsdeutsch über geparkte Fahrzeuge spricht, wurde schon überwacht. Strafen setzte es nicht nur, wenn jemand Holz auf der Straße lagerte oder Stallmist am Straßenrand „in der Wasserkandel über den Sonntag aussetzte“, sondern immer wieder auch, wenn ein Pflug über Nacht auf der Straße gestanden hatte. Auch da ging es schon um die Sicherheit der Fußgänger, die nach Einbruch der Dunkelheit und dazumal noch ohne Straßenlampen die Hindernisse nicht erkennen konnten.
Die Strafen verhängte die Gemeindeverwaltung auf regelmäßig stattfindenden Rugsitzungen, bei denen die Übeltäter vor aller Öffentlichkeit ihre Strafen diktiert bekamen.
Die „Ruach“
Ruggerichte, auch Rugmale oder kurz Rug und in der Dorfsprache Ruach genannt, kommen aus der altfränkischen Rechts- und Verwaltungstradition. Sie hatten die Aufgabe, die Ordnung und Sicherheit im Dorf zu gewährleisten.
Nach der Gemeinderechnung von 1718, der ältesten, die im Archiv des Rathauses verwahrt ist, trat das Dorfgericht, Vorläufer des heutigen Gemeinderats, in diesem Jahr zwei Mal zu Rugmalen zusammen. Bei den Terminen orientierte man sich, wie auch sonst, an kirchlichen Fest- oder Gedenktagen. So gab es im Frühjahr die Petri-Rug, die immer um den 22. Februar, dem Fest Petri Stuhlfeier, gehalten wurde, und im Herbst die Martini-Rug um den 11. November, dem Fest des Hl. Martin. In den meisten Jahren gab es dazwischen noch einen dritten Rugtermin um den sogenannten Hagelfeiertag im Mai, an dem die Flurprozession um das Dorf zog, nach den ebenfalls meist in den Mai fallenden Pfingstfeiertagen die Pfingst-Rug genannt.
Zu den Rugsitzungen, sonntags „nach geendigtem Nachmittagsgottesdienst“, wurden die Ortsbewohner vom Gemeindediener durch Ausschellen auf das Rathaus geladen. Der Reihe nach wurden „die Frevel“ öffentlich vorgetragen, die der Feld- und Waldhüter, der Gemeindediener oder auch einzelne Bürger – meist die Geschädigten – seit der letzten Sitzung zur Anzeige gebracht hatten, und den „Frevlern“ sogleich ihre Strafe diktiert. Nach heutigem Sprachgebrauch waren es Ordnungswidrigkeiten, für die Verwarnungs- oder Bußgelder verhängt wurden. Die Bestrafung schwerer Gesetzesverstöße war seit jeher wie heute überörtlichen Instanzen vorbehalten. Das alte Dorfgefängnis, genannt Narrenhaus, am Aufgang zur Kirche wurde zwar erst 1957 beseitigt, war aber seit der Eingliederung Günterslebens in das Königreich Bayern im Jahr 1814 außer Gebrauch.
Von den bei der Rug verhängten Geldstrafen erhielt „jedesmal der Anzeiger die Hälfte“, wie man in den Gemeinderechnungen nachlesen kann. Man wollte damit die Bürger zu erhöhter Wachsamkeit anspornen; heute würden wir darin eher einen fragwürdigen Anreiz zum Denunzieren sehen. Für den Gemeindediener und den Feld- und Waldhüter war es eine willkommene Möglichkeit, ihre kärglichen Dienstbezüge etwas aufzubessern.
Feldfrevel und Obstdiebstähle
In einem Bauerndorf wie Güntersleben ging es bei den Rugverhandlungen vorrangig um die Ahndung von „Feldfreveln“. Genaueres können wir den Protokollbüchern entnehmen, in denen seit 1828 penibel die einzelnen „Frevel“, die Namen der „Frevler“ und die jeweils verhängten Strafen aufgezeichnet wurden. Mit einer Anzeige und Bestrafung musste rechnen, wer beim Pflügen die Grenzen zu den Nachbargrundstücken missachtete, mit seinem Fuhrwerk vor der Ernte über bestellte Äcker fuhr oder sein Vieh zur Weide auf fremde Kleeäcker oder Wiesen trieb. Frauen und Kinder wurden bestraft, wenn sie zur Versorgung ihrer Haustiere in fremden Getreideäckern oder Rübenfeldern „beim Grasen ergriffen“ wurden. Trauben- und Obstdiebstahl wurden ebenso bei der Rug geahndet wie jede andere Beschädigung fremden Eigentums. Erschien ein Beschuldigter nicht beim Termin, galt das als Schuldeingeständnis und konnte obendrein noch gesondert bestraft werden.
Ein ständiges Ärgernis waren die vielen Gänse im Dorf, denen es immer wieder gelang, ein Schlupfloch aus dem Hof ins Freie zu finden und deren Flugkünste auch ausreichten, um die nächsten Gartenzäune zu überwinden. In manchen Jahren kam der Gemeindediener bei seinen Anzeigen auf 100 und mehr Gänse, die er zwischen Gemüsebeeten oder im frischen Klee „ergriffen“ hatte. Wie heute den Bußgeldkatalog gab es auch damals feste Tarife für bestimmte Delikte. Eine Gans, die ihrem Besitzer ausgebüxt war und auf verbotenem Terrain gesichtet wurde, kostete diesen drei Kreuzer – nach heutigem Geldwert etwa einen Euro – Strafe.
1844 wurde mit dem Gastwirt Michael Christ ein Ortsvorsteher gewählt, dem Ordnung über alles ging und der dem zuletzt eingerissenen Schlendrian in der Gemeinde rigoros zu Leibe rückte. Dazu erweiterte er die herkömmliche Feldrug um die Polizeirug für Verstöße im Dorf. Neben den eingangs erwähnten Vergehen wurde dabei zum Beispiel auch geahndet, wenn die Straße vor dem Sonntag nicht gereinigt wurde oder des Nachts „Suddel“ auf die Straße geleitet, also auf diese Weise die Jauche aus dem Viehstall entsorgt wurde. Die Zahl der geahndeten Verstöße stieg bald nach Christs Amtsantritt auf mehrere Hunderte im Jahr.
Rugverhandlungen gab es mit ihm bald nicht mehr nur drei im Jahr wie bisher, sondern bei Bedarf jeden Monat. Wo jemand ein solch strenges Regiment führt, muss er allerdings auch damit rechnen, dass mancher nur darauf wartet, ihn auch bei einem „Frevel“ zu ertappen. So findet sich im Protokoll der von ihm geleiteten Rugsitzung vom März 1847 denn auch eine Anzeige des Bürgers Andreas Öffner „gegen den Vorsteher wegen seines auf der Straße stehen gebliebenen Pfluges“. Die Strafe von 15 Kreuzern wurde ausweislich der Gemeinderechnung auch gezahlt.
In den letzten Jahren seiner Amtszeit beraumte Michael Christ, wohl seiner Krankheit geschuldet, nur noch wenige Rugtermine an. Nach seinem Tod im Jahr 1860 gab es dann zwar wieder öfter eine Sitzung. Dann aber enden mit dem Jahr 1863 die Aufzeichnungen. Die Zeit der „Ruach“ war wohl vorbei. Nur in der Erinnerung älterer Ortsbewohner lebte sie noch lange fort.
Gefängnis, Zuchthaus, Arbeitshaus
Sollte man nun meinen, der gestrenge Ortsvorsteher habe die Günterslebener zu gesetzestreueren Bürgern bekehren können, dann wird man beim Blick in die Lokalzeitungen aus dieser Zeit schnell eines Besseren belehrt und kommt aus dem Staunen kaum heraus. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet man kaum ein Jahr ohne Berichte über Prozesse gegen Straffällige aus Güntersleben. Gab es in einem Jahr nur ein oder zwei Verfahren, konnten es im Jahr darauf gleich ein halbes Dutzend oder mehr sein. Am Ende wanderten die Angeklagten fast immer für Monate oder auch Jahre hinter Schloss und Riegel. Wer Glück hatte, durfte diese in einem normalen Gefängnis absitzen, das es auch in „geschärfter“ oder „doppeltgeschärfter“ Form geben konnte, „bei Wasser und Brot“ oder „einsamer Einsperrung in einem dunklen Raum“ in den letzten Tagen vor der Entlassung. Noch um einiges härter traf es die, die in ein Zuchthaus oder Arbeitshaus einrücken mussten. Solche Einrichtungen, oft in aufgelösten Klöstern, in denen auch Häftlinge aus Güntersleben durch Arbeit zu einem besseren Leben umerzogen werden sollten, waren in Ebrach, in Rebdorf bei Eichstätt, in Bayreuth und auf der Plassenburg in Kulmbach. Aus den Führungszeugnissen, die am Ende der Haftzeit dem Pfarramt zugestellt wurden, geht hervor, dass die Gefangenen vornehmlich in der Landwirtschaft, aber auch in Fabriken wie der Porzellanfabrik in Bayreuth eingesetzt wurden. In einem der Entlasszeugnisse im hiesigen Pfarrarchiv wird einem wegen Bettelns und Landstreicherei Verurteilten 1887 attestiert, dass er wegen seiner geistigen Beschränktheit „nur zum Kartoffelschälen verwendet werden konnte“.
Landstreicherei und Betteln, weil man keine Arbeit finden konnte oder annehmen wollte, hat auch andere damals für Monate hinter Gitter gebracht. In der Mehrzahl der Fälle waren es Körperverletzungen, oft bei Wirtshausschlägereien, oder Eigentumsdelikte wie Diebstahl, Hehlerei, Unterschlagung und Betrug. Auch Sittlichkeitsdelikte stehen auf der Liste der abgeurteilten Straftaten weit oben. Kuriosum am Rande: Der Tünchermeister Anton Kolb kam 1891 mit einer Geldstrafe von 3 Mark davon, weil er an Fastnacht einen Umzug mit Masken und Musik veranstaltete.
Zählt man alle Fälle, über die in den Zeitungen berichtet wurde, zusammen, bekamen zwischen 1850 und 1900 alles in allem mindestens 90 Günterslebener Gelegenheit, die erwähnten Strafanstalten für mehr oder weniger lange Zeit näher von innen kennenzulernen. Und das bei weniger als einem Viertel der heutigen Einwohnerzahl. In der Regel handelte es sich um jüngere Männer. Den allermeisten reichte es nach einem Mal, es gab aber auch Stammkunden, die häufiger einrücken mussten. Frauennamen findet man übrigens in den Straflisten aus dieser Zeit nur vier.
Fraglos war der Staatsanwalt früher viel schneller zur Stelle als heute und bei der Bemessung der Haftzeiten und Haftbedingungen waren die Gerichte auch nicht zimperlich. Vielleicht ist aber auch etwas dran an der Feststellung der übergeordneten Schulbehörde vom 4. Oktober 1854 anlässlich der anstehenden Neubesetzung der frei gewordenen Lehrerstelle: „Die Jugend allda ist ziemlich roh und unwissend.“ Der neue Lehrer dürfe daher „bei Hindernissen und Kränkungen, die wegen der Derbheit der Günterslebener nicht selten vorkommen, nicht den Mut verlieren, sonst ist es um ihn geschehen.“
03/2025