Viele Kinder, kurzes Leben
Die typische Familie in Deutschland, wie sie uns auch in Werbeanzeigen präsentiert wird, hat ein oder zwei Kinder. Gehört man zu den rund zehn Prozent der Familien mit drei und mehr Kindern, gilt man schon als kinderreich. Fünf und mehr Kinder findet man nur bei einer von 100 Familien.
Wie anders waren doch die Familiensituationen in der Vergangenheit. Im Durchschnitt sechs bis sieben Kinder wurden in den Familien geboren, die zwischen 1800 und 1914 in Güntersleben begründet wurden, mit den gleichen Eltern oder mit verschiedenen Vätern oder Müttern, wenn ein Elternteil sich nach dem frühen Tod des anderen wieder verheiratet hatte. Familien, in denen nur ein oder zwei Kinder geboren wurden, waren so selten wie heute kinderreiche Familien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der in Güntersleben – bei kaum einem Viertel der heutigen Einwohnerzahl – so viele Kinder geboren wurden wie in keinem anderen vergleichbaren Zeitraum vorher und nachher, hatte jede vierte Familie fünf und mehr Kinder. Zehn und mehr Kinder waren keine Seltenheit. Sieben Frauen gab es in diesem halben Jahrhundert, die 14 oder 15 Kinder zur Welt brachten.
Dass nach 1850 so viele Kinder geboren wurden, hatte viel mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse zu tun, die seit dieser Zeit, wenn auch im Vergleich zu manchen Nachbardörfern auf nach wie vor bescheidenem Niveau, in Güntersleben zu beobachten war. Kinderreichtum konnten sich damals am ehesten die wohlhabenderen Familien leisten. Wo auf dem Hof Dienstboten, Knechte und Mägde, beschäftigt waren, hatte die Frau mehr Zeit, sich um Kinder zu kümmern. So ist es auch kein Zufall, dass der Mann mit den meisten, nämlich 21, Kindern in Güntersleben gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Hirschenwirt Johann Schömig war. War er doch zu dieser Zeit auch der mit Abstand größte Steuerzahler am Ort. Schömig war zweimal verheiratet. Zehn seiner Kinder starben aber schon bald nach der Geburt oder in ihren ersten Lebensjahren.
Damit ist der zweite Punkt genannt, der die damaligen familiären Verhältnisse so sehr unterscheidet von denen in unserer Zeit. Stirbt ein Kind bei der Geburt oder in seinen ersten Lebensjahren, ist das für seine Eltern eine schreckliche Tragödie. Die Lücke wird umso schmerzlicher empfunden, wenn keine oder, wie heute häufig, nur wenige Geschwister vorhanden sind. Glücklicherweise kommt ein solches Ereignis hierzulande nur noch selten vor. In Deutschland sind es nur drei bis vier Kinder von 1000 Neugeborenen (0,3 – 0,4 %), die dieses Schicksal erleiden. In einigen Ländern im zentralen Afrika mit den heute weltweit höchsten Sterblichkeitsraten sind es noch drei bis vier Mal so viele.
Auch das sind aber sehr wenige, wenn wir damit vergleichen, wie viele Kinder bei uns bis noch vor 100 Jahren in ihren ersten Lebensjahren starben. In Deutschland starben um 1870 etwa 25 % aller Neugeborenen, bevor sie fünf Jahre alt waren. Die Zahl sank bis 1900 auf etwa 20 % und lag um 1910 noch bei etwa 16 %. In allen vorliegenden Erhebungen wird jedoch darauf hingewiesen, dass es starke regionale Unterschiede gab, bei der in manchen Gegenden die Kindersterblichkeit bis zu 35 % betragen konnte.
Die Vergleichszahlen für Güntersleben lagen sogar noch höher. Um 1870 starben 40 % der Kleinkinder, bevor sie 5 Jahre alt waren. Bis 1900 sank der Wert leicht auf immer noch erschreckende 36 %, um dann erneut im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts auf 40 % anzusteigen. Besonders schlimm traf es die Geburtsjahrgänge 1905 und 1908. Von den 50 Kindern, die 1905 geboren wurden, starben 23 schon bei oder bald nach ihrer Geburt und drei weitere, noch bevor sie fünf Jahre alt waren. 1908 wurden 58 Kinder geboren, von denen 28 noch im ersten Lebensjahr und vier weitere bis zum Alter von fünf Jahren verstarben. Den meisten Ehepaaren, die zwischen 1900 und 1910 in Güntersleben heirateten, blieb es nicht erspart, in den Jahren danach den frühen Tod von einem oder auch mehreren Kindern beklagen zu müssen.
Woran lag es, dass Güntersleben eine so hohe Kindersterblichkeit aufwies, die weit über die allgemein bekannten Durchschnittswerte hinausging? Und hatte es diese traurige Spitzenstellung auch im regionalen Bereich? Vergleichszahlen aus den Nachbargemeinden sind nicht bekannt. Man kann sich aber kaum vorstellen, dass es dort noch schlimmer gewesen sein könnte.
Generell als Hauptgründe für eine hohe Kindersterblichkeit werden Mangelernährung, nachlässige Hygiene, unzureichende Kenntnisse der Mütter und fehlende ärztliche Versorgung angeführt. Das alles dürfte auch für Güntersleben zugetroffen haben. Bei den Sterbeeinträgen findet man denn auch neben den üblichen Kinderkrankheiten auffällig häufig Brechdurchfall, Magen- und Darmkatarrh, Abmagerung, Auszehrung, Rachitis und damit ernährungsbedingte Krankheiten.
Ein Hinweis darauf, dass die Kindersterblichkeit in Güntersleben auch im Vergleich zur näheren Umgebung besonders auffällig war, könnte sein, dass das Bezirksamt mit Schreiben vom 26. November 1908 von der Gemeinde dazu einen Bericht einforderte. In seiner Antwort vom 13. Dezember 1908 nannte der örtliche Armenpflegschaftsrat, ein gemeinsames Gremium von Gemeinde und Pfarrei, als Gründe für die Säuglingssterblichkeit „hauptsächlich Erwerbsnachgang der Mütter, ferner Milchmangel der Mütter, in einigen Fällen Krankheit derselben.“ Als Mittel zur Behebung dieser Ursachen sah er „Verringerung der Dienstbotennot, Kenntnis der zweckmäßigen Kinderernährung, unentgeltliche ärztliche Belehrungen, z. B. bei Gelegenheit des Impfens.“
Wirklich geändert hat sich in Güntersleben zunächst einmal wenig. Zu einer spürbaren Eindämmung der Kindersterblichkeit kam es erst im Lauf der 1920er Jahre. Bis 1930 sank die Sterberate bei Kindern bis zu fünf Jahren auf 17 %. Damit hinkte Güntersleben aber weiterhin der allgemeinen Entwicklung hinterher. Deutschlandweit lag die entsprechende Vergleichszahl zu der Zeit bei nur noch 6 %.
Bis in die späten 1950er Jahre gab es auf dem Friedhof in Güntersleben noch eine eigene Abteilung für Kindergräber. Sie erinnerten an die Zeit, als der Weg der Schulkinder, wie unsere Großeltern zu erzählen wussten, nach dem morgendlichen Gottesdienst nur allzu oft erst hinter einem Kindersarg auf den Friedhof führte, bevor der Unterricht begann.
10/2021