Der Kirchenchor in Güntersleben
Es war mehr als ein Hauch von Wehmut, der manche Besucher ergriff, als Pfarrer Steigerwald im Juni 2024 das schon vorher verkündete Ende der Chorgemeinschaft Güntersleben-Thüngersheim mit einem Dankgottesdienst gewissermaßen besiegelte. Damit endete auch die 90-jährige Geschichte des Kirchenchors Güntersleben, der – mit einer 10-jährigen Unterbrechung – seit 1933 das kulturelle Leben am Ort bereichert hatte.
Bevor es den Kirchenchor gab
Im Vergleich zu Thüngersheim, dessen Kirchenchor schon 1868 gegründet wurde, hatte man sich damit in Güntersleben erst einmal Zeit gelassen. Das heißt aber nicht, dass die Günterslebener bis dahin auf den Chorgesang bei festlichen Gottesdiensten verzichten mussten. Schon Ignatius Gropp, von 1749 bis 1758 Pfarrer in Güntersleben, berichtet darüber, dass seine Vorgänger und dann auch er „Gesangbüchlein für den Chor und die Sing-Mägdlein“ und schließlich auch „ein neues Violon-Cell für die Chor-Musik“ angeschafft haben. In der Zeit, als die Pfarrer noch die Aufsicht über die Lehrer zu führen hatten, liest man in den Beurteilungen immer wieder auch von deren Fähigkeiten und Leistungen als Kantor. 1844 wird dem damaligen Schulleiter Karl Joseph Roth besondere Anerkennung für die „Einübung vierstimmiger Chöre“ zuteil und sein Nachfolger Adam Ulsamer verdiente sich 1849 „vorzügliches Lob wegen seinem Musikunterricht für den Chor“.
In der Kirchenrechnung von 1914 sind elf Männer, unter ihnen auch Bürgermeister Gottfried Issing, namentlich aufgezählt, die „für Aufführungen der Meßgesänge bei den feierlichen Gottesdiensten“ jeweils eine Jahresvergütung von 20 Mark bekamen. Ähnliche Einträge findet man auch für die Jahre davor und danach.
Gesangsvorträge in der Öffentlichkeit waren – wie alle öffentlichen Auftritte im Dorf – um diese Zeit eher den Männern vorbehalten. So waren es dann auch 53 Männer, die sich 1924 mit dieser erstaunlichen Zahl von Gründungsmitgliedern zu einem Gesangverein zusammenschlossen. Chorleiter wurde der Gemeindeschreiber Andreas Fleder, der wie später sein Sohn Ewald auch die Blaskapelle leitete. Wie Zeitgenossen zu berichten wussten, besuchten die Sangesbrüder regelmäßig die damals häufigen Sängerfeste im Umkreis.
Der Kirchenchor als geschützter Raum unter dem Nationalsozialismus
Am 30. Januar 1933 kamen in Berlin die Nationalsozialisten an die Macht. Gut eine Woche später rief am 8. Februar 1933 Pfarrer Joseph Weber in Güntersleben den Kirchenchor ins Leben. Als Gründungsmitglieder gehörten ihm 15 Sänger und in gleicher Zahl Sängerinnen an. Die Männer kamen zum größten Teil aus dem Gesangverein, darunter auch dessen Dirigent Andreas Fleder, der fortan den Kirchenchor leitete.
War die zeitliche Abfolge nur Zufall oder ahnte man frühzeitig, was kommen würde und tatsächlich auch bald eintraf? Alle Vereinigungen im Ort, mit Ausnahme des neu gegründeten Kirchenchors, wurden verboten oder lösten sich auf behördlichen Druck selbst auf. Vom Gesangverein gibt es aus dieser Zeit keine Nachrichten mehr.
Um an der Zielsetzung keine Zweifel aufkommen zu lassen, gab sich der Kirchenchor eine von Pfarrer Weber formulierte Satzung, in der dessen Aufgabe ausdrücklich auf die Pflege der Kirchenmusik vorrangig zur Gestaltung der Gottesdienste beschränkt war. Falls es möglich sei, das Fest der hl. Cäcilia, der Patronin der Kirchenmusik, auch mit einer weltlichen Feier zu begehen, seien Tanzunterhaltungen nicht gestattet.
Diese enge Festlegung auf den innerkirchlichen Bereich entsprach der Linie von Pfarrer Weber, der fraglos der NS-Ideologie ablehnend gegenüberstand, es aber geschickt verstand, um des Dorffriedens willen keine Konflikte zu provozieren oder bis zum Ende auszureizen. Mit dieser Zurückhaltung geriet der Kirchenchor dann auch tatsächlich nicht ins Visier der braunen Machthaber.
Zu einer größeren Bedrohung für den Fortbestand des Kirchenchors wurde erst der Krieg. Nach dem Tod von Andreas Fleder musste man seit 1938 mit häufig wechselnden Dirigenten auskommen. Am längsten in Erinnerung blieb von diesen die Klosterschwester Clementine Schnetter, die den Chor in den Jahren von 1943 bis 1944 leitete. Schwieriger aber war es noch, nach den Einberufungen die Männerstimmen zu besetzen. Sichtbar wird das auf dem ältesten erhaltenen Bild des Kirchenchors aus dieser Zeit. Hinter den 18 Sängerinnen sind darauf nur acht Sänger, überwiegend schon in fortgeschrittenem Alter, zu sehen. Umso mehr muss es erstaunen, dass der Kirchenchor unter den chaotischen Verhältnissen der letzten Kriegswochen auch an Ostern 1945 noch zusammenfand, um den Festgottesdienst mitzugestalten.
Das Kriegsende überstanden und dann das abrupte Ende
Mit der Heimkehr der ersten Kriegsteilnehmer füllten sich auch bald wieder die Reihen des Kirchenchors. Auf 35 bis 40 Sängerinnen und Sänger konnte der neue Dirigent Markus Fischer bei den regelmäßigen Auftritten zählen. Doch die Harmonie zwischen ihm und seinem Chor sollte nicht von Dauer sein.
Als 1951 bekannt wurde, dass sich Fischer kommunalpolitisch bei den Sozialdemokraten engagierte, für die er nachfolgend auch als Bürgermeister kandidierte, war das nach damaligem kirchenamtlichem Verständnis mit seiner Funktion als Dirigent eines Kirchenchors nicht vereinbar. Da ihm überdies in diesem Zusammenhang auch noch kirchenkritische Äußerungen nachgesagt wurden, war er seinen Posten los. Ein anderer Dirigent stand nicht zur Verfügung und so wurde der Kirchenchor kurzerhand „storniert“, wie der Vorgang in einem später verfassten Eintrag im Protokollbuch umschrieben wird. Im Klartext: Für die nächsten zehn Jahre gab es keinen Kirchenchor mehr in Güntersleben. Statt des Kirchenchors dirigierte Markus Fischer nun den um diese Zeit gegründeten Chor des TSV.
Nach zehn Jahren Pause ein erfolgreicher Neubeginn
1961 kam der gebürtige Günterslebener Karl Lother als Lehrer zurück in seine Heimatgemeinde. Er kannte noch den Kirchenchor als Sänger in der Nachkriegszeit. Seine Bereitschaft, das Amt des Dirigenten zu übernehmen, ermöglichte dem Kirchenchor noch im gleichen Jahr einen Neustart, der mit 45 Sängerinnen und Sängern auch eindrucksvoll gelang. Güntersleben hatte die folgenden Jahrzehnte mit dem Kirchenchor und dem TSV-Chor jetzt zwei Chöre mit zeitweise zusammen 80 und mehr Aktiven – aus heutiger Sicht bei doppelter Einwohnerzahl kaum mehr vorstellbar.
Karl Lother, später auch Schulleiter in Güntersleben, dirigierte den Chor bis 1979, um dann die Leitung seinem Sohn Werner Lother zu übergeben, der den Taktstock mit Unterbrechungen fast 30 Jahre führte.
Anders als im Dritten Reich konnte der Kirchenchor jetzt auch öffentlich über seine nach wie vor bestehende vorrangige Aufgabe der festlichen Mitgestaltung der Gottesdienste hinaus in Erscheinung treten, was er bei vielfältigen Gelegenheiten auch tat. Dazu gehörten zum Beispiel seit 1975 die alljährlichen Kirchenkonzerte, die Mitwirkung bei festlichen Anlässen im Ort und in anderen Gemeinden, beim Volkstrauertag oder beim Kulturherbst im Rathaus. Bleibende Belege für sein hohes Niveau sind eine Schallplatte und mehrere CD-Aufnahmen.
Der Nachwuchs bleibt aus
Aller Erfolge ungeachtet spürte der Kirchenchor, wie viele andere Laienchöre, spätestens um die Jahrtausendwende ein nachlassendes Interesse vor allem jüngerer Menschen am gemeinsamen Chorgesang. 2004 musste deshalb schon der TSV-Chor aufgeben. 2011 schloss sich der Günterslebener Kirchenchor mit dem Kirchenchor Thüngersheim, den ähnliche Sorgen plagten, zu einer Chorgemeinschaft zusammen, was noch einmal einen vorübergehenden Aufschwung bewirkte. Als dann aber nach der Zwangspause durch die Corona-Pandemie 2022 allmählich wieder reguläre Verhältnisse einkehrten, zeichnete sich bald ab, dass alles Werben um Nachwuchs vor allem für die Männerstimmen vergeblich war. Bei zuletzt nur noch acht Tenor- und Basssängern – alle nicht mehr die Jüngsten – unter den insgesamt 31 Aktiven der Chorgemeinschaft sahen auch Dirigent Werner Lother und die Vorstandschaft um Brigitte Lorenz keine Zukunft mehr.
Ende 2023 löste sich die Chorgemeinschaft auf, wie zu befürchten ist, dieses Mal nicht nur vorübergehend. Den Liebhabern des gepflegten mehrstimmigen Gesangs wird der Kirchenchor in Güntersleben fehlen.
06/2024