Die rote Fahne auf der Pappel

10. Dezember 2021

Die rote Fahne auf der Pappel

Bei der Brücke über den Dürrbach, wo die Gramschatzer Straße von der Rimparer Straße abzweigt, stand bis 1955 eine hohe Pappel. Sie überragte nicht nur die anderen Bäume, die das Bachufer säumten, sondern auch die Häuser der Umgebung, wie schon auf alten Bildern aus der Zeit um 1910 zu sehen ist.

Es war in den unruhigen Jahren um 1930, als diese Pappel oder besser ein ungewöhnlicher Baumschmuck, den Unbekannte ihr zugedacht hatten, für Aufregung im Dorf sorgte. Leuchtete doch eines Morgens von der Spitze der Pappel eine weithin sichtbare rote Fahne. Und das ausgerechnet am Markustag in der Bittwoche, an dem traditionsgemäß die Rimparer Wallfahrer den Berg herunter ins Dorf zogen. Welch eine Schande!

Wie die Fahne auf die Spitze der Pappel gelangt war, kam offiziell nie heraus. Doch für Volkes Stimme war schnell klar, und damit lag man wohl auch nicht falsch: Das konnten nur welche von den Kommunisten gewesen sein. Die hatten zu der Zeit in Güntersleben nicht wenige Anhänger. Und denen traute man alles zu.

Als am Morgen das dreiste Bubenstück entdeckt wurde, rückte erst einmal die Feuerwehr an und fuhr ihre große Leiter aus. Doch wo die endete, fehlte immer noch ein gehöriges Stück bis ganz nach oben. Freiwillig wollte da keiner hinaufklettern. Auch der junge Feuerwehrmann, den die Gemeindeoberen mit fünf Mark locken wollten, ließ sich durch diese für damals recht stattliche Belohnung nicht verleiten, das Abenteuer auf sich zu nehmen.

Die Schulkinder, die von ihrem Klassenzimmer aus das Schandobjekt sehen konnten, warteten ungeduldig auf das Ende des Unterrichts, um dann gleich die Gasse hinunterzustürmen und sich zwischen die zahlreichen Dorfbewohner zu drängen, die das Spektakel bestaunten und allerlei kluge Ratschläge von sich gaben. Güntersleben hatte seine Sensation!

Auch wenn man die Sache lieber geräuschlos unter sich bereinigt hätte, blieb dem Bürgermeister schließlich nichts anderes übrig, als die Bereitschaftspolizei zu Hilfe zu rufen, die dem Spuk ein Ende bereitete. Mit Steigeisen ausgerüstet machte sich ein Uniformierter auf den Weg nach oben und holte die Fahne herunter. Die Ehre des Dorfes war gerettet!

12/2021