Wenn der Wedel draußen hängt: Heckenwirtschaft
Seit Jahrhunderten
„Die Hecke“ ist eine Sprachschöpfung unserer auf Kürze und Tempo getrimmten Zeit. Heckenwirtschaften gibt es jedoch in Güntersleben seit Jahrhunderten. Und noch länger gibt es ohne diese Bezeichnung den Ausschank auf dem Hof der Weinbauern.
In der Ortsbeschreibung, die das fürstbischöfliche Amt Arnstein 1594 über Güntersleben verfasste, kann man dazu lesen: „Ein jeder Nachbar hat Macht, mit seinem Weine, der ihm erwächst, ein Wirt zu werden, ein Monat lang und nicht länger an einander, hernach muß er ein Monat stillhalten, alsdann hat er Macht wieder ein Wirt zu werden…. Welcher will ein Wirt sein, steckt nit ein öffentlichen Reis auf, läßt den Wein nicht beschreien, die Maß nicht eichen, soll 6 Pfund zur Strafe geben.“ Also genau das, was man später Heckenwirtschaft nannte, und mit den Regularien, wie sie bis heute kaum verändert gelten.
Wie lange davor es hier schon so etwas wie Heckenwirtschaften gab, wissen wir nicht. Urkundlich belegt ist der Weinbau in Güntersleben, ausweislich einer Grundstücksschenkung, seit 1280. Und wenn ein gutes Weinjahr war, mussten die Fässer bis zur neuen Ernte schließlich wieder leer sein.
Was erlaubt war und was nicht
Die Bezeichnung Heckenwirtschaft begegnet einem in Güntersleben zum ersten Mal im Jahr 1817, war aber seinerzeit anscheinend schon länger im Sprachgebrauch üblich. Es gibt verschiedene Mutmaßungen, die Herkunft des Begriffs zu erklären. Am wahrscheinlichsten und eigentlich auch allein überzeugend ist die Herleitung von Häcker, wie man früher die Weinbauern oder Winzer nannte. In einer Übersicht von 1817 werden 50 Häcker in Güntersleben aufgeführt. In anderen Gegenden Frankens spricht man auch tatsächlich von Häckerwirtschaft oder kurz Häcke.
Bei dem Vorgang von 1817 ging es um die Beschwerde eines Wirtes, weil ein Bäcker, der wie fast jede Familie im Dorf auch Weinberge hatte, schon seit Jahren „dorfsordnungswidrig“ immer wieder Heckenwirtschaft halte. Die Gemeindeverwaltung konnte hingegen kein „dorfsordnungswidriges“ Verhalten erkennen, weil es zu der Zeit, als die fragliche Heckenwirtschaft geöffnet hatte, keine weitere im Dorf gab. Dass auch nachfolgend die Gastwirte auf die Einhaltung der – nicht niedergeschriebenen, sondern nur auf Herkommen beruhenden – Dorfsordnung bestanden, ist der Angst vor der Konkurrenz durch die Heckenwirtschaften geschuldet.
Zur ungeschriebenen Regel der Günterslebener Dorfsordnung gehörte demnach, dass zum Schutze der Gastwirte zur gleichen Zeit immer nur eine Heckenwirtschaft stattfinden durfte. Die durfte auch nur jeweils eine begrenzte Zeit, in der Regel vier Wochen, dauern. Erst nach einer Unterbrechung durfte sie dann erneut öffnen, sofern nicht zwischenzeitlich ein anderer Winzer sein Interesse angemeldet hatte. Je nachdem, wie die Fässer in den Kellern gefüllt waren, konnten daher auch mehrere Heckenwirtschaften im Lauf des Jahres stattfinden. Ausgeschenkt wurde immer der Wein aus der vorangehenden Ernte. Aus der Anzahl der Heckenwirtschaften, die seit 1886 in einem eigenen Kataster im Rathaus erfasst wurden, kann man daher Rückschlüsse darauf ziehen, wie die Weinlese im vorangehenden Jahr ausgefallen war: 1891 offenbar wenig ergiebig, weil es im Jahr darauf keine einzige Heckenwirtschaft gab und 1894 und 1896 umso reichlicher, weil in den Folgejahren jeweils fünf Heckenwirtschaften registriert wurden. 1906 entschied die Gemeindeverwaltung, „in Anbetracht der schlechten Mostverkaufsverhältnisse sowie in Hinsicht auf die weinbautreibenden Nachbargemeinden, welche bedeutend mehr Heckenwirtschaften besitzen, ferner in Anbetracht der Unzulänglichkeit der jeweiligen einzigen Heckenwirtschaft“ künftig gleichzeitig jeweils zwei Heckenwirtschaften zu gestatten. Bevor das aber dann auch geschehen konnte, musste erst noch eine Bürgerabstimmung in der Gemeindeversammlung anberaumt und die Zustimmung des Bezirksamtes eingeholt werden – als so gewichtig wurde offenbar dieser Kurswechsel angesehen.
Die weiteren Regularien zum Schutz der Wirtshäuser blieben aber zunächst einmal unverändert. Die Zahl der Sitzplätze war auf höchstens 40 beschränkt. Nur Wein aus eigenem Anbau durfte ausgeschenkt werden und zum Verzehr durften nur einfache kalte Speisen angeboten werden. Fleisch- und Wurstgerichte waren ebenso untersagt wie der Ausschank von Bier.
Das ehedem vorgeschriebene Aufstecken „eines öffentlichen Reis“ wurde in Güntersleben in der Weise weitergepflegt, dass die Heckenwirtschaften durch einen schon von weitem gut sichtbaren Tannen- oder Fichtenzweig, hierorts Wedel genannt, am Hofeingang auf sich aufmerksam machten. Wenn „der Wedel rausgehängt“ war, wusste man, ein Weinbauer lädt zur Heckenwirtschaft ein. Wenn der Wedel abgenommen war, hieß das, die Zeit der Heckenwirtschaft ist abgelaufen. Geschah das schon vorzeitig, dann waren die Fässer leergetrunken und es gab nichts mehr.
Fast schon Geschichte und dann doch wieder
Als nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Weinbaufläche in Güntersleben aus verschiedenen Gründen von ehemals 85 Hektar auf kaum noch 10 Hektar zurückgegangen war, war es bald auch mit den Heckenwirtschaften vorbei. Die Weltkriege taten ein Übriges, dass die alte Tradition endgültig in Vergessenheit zu geraten schien.
Doch dann öffnete im Spätsommer 1948 zum ersten Mal nach Kriegsende bei Franz Kuhn auf dem Spohr-Hof in der Thüngersheimer Straße wieder eine Heckenwirtschaft. Wie eh und je waren dafür die gute Stube und das Schlafzimmer ausgeräumt und mit Tischen und Bänken ausgestattet worden. Am Ende waren die zwei Hektoliter Müller-Thurgau, die der Weinberg am Altenberg das Jahr vorher getragen hatte, ausgetrunken, ausgeschenkt in Schoppen zu 80 Pfennigen. Dazu gab’s aus ebenfalls eigener Herstellung Plätzchen – Makranen – und Brot mit Käse oder Heringen. Trotz des aus unserer heutigen Sicht kargen Angebots waren die Räume allabendlich dicht besetzt. Dass die meisten Gäste nur wenige Wochen vorher bei der Währungsreform fast alle ihre Ersparnisse verloren hatten, tat der Feierlaune keinen Abbruch. Noch mehrmals öffnete die Heckenwirtschaft bis 1952. Dann war erst wieder einmal Schluss.
Wieder schien es, als gehörten Heckenwirtschaften in Güntersleben endgültig der Vergangenheit an, bis 1987 die Heckenwirtschaft Will ihren bis heute fortbestehenden Betrieb aufnahm. Zwischenzeitlich gab es sogar noch zwei weitere Heckenwirtschaften in Güntersleben, doch deren Besitzer wollten sich das zwar einträgliche, aber auch stressige Geschäft auf Dauer doch nicht antun. Anders als früher sitzt man bei Will nicht mehr in der ausgeräumten Wohnung, sondern in einer eigens für diesen Zweck gebauten Gaststube oder bei schönem Wetter auch im Freien. Nicht nur beim jetzt wesentlich größeren Platzangebot hat sich einiges gegenüber früher geändert. Es gibt ein ungleich vielfältigeres Weinangebot, nach wie vor aber ausschließlich aus eigenem Anbau, und eine abwechslungsreiche Speisekarte.
Und auch das hat sich geändert: War früher der Besuch einer Heckenwirtschaft nahezu ausschließlich Männern vorbehalten, kann man heute dort Männer und Frauen und manchmal auch ganze Familien antreffen. Platzreservierungen oder Vorbestellungen gibt es aber wie herkömmlich in der Heckenwirtschaft nicht. Man muss rechtzeitig kommen oder den Zeitpunkt nutzen, wenn die ersten Gäste – meist Rentner, die schon nachmittags auf den Einlass gewartet haben – ihr Pensum hinter sich haben und den Heimweg antreten.
09/2022