Damit die Jugend im Sommer nicht alles vergesse

17. Juli 2022

Damit die Jugend im Sommer nicht alles vergesse

Wie soll das gehen? So fragten sich viele Eltern, als nach dem Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr 2020 ihre Kinder zeitweise nicht mehr in die Schule gehen konnten und zuhause betreut werden mussten.

Wie soll das gehen? Die Frage stellten viele Eltern auch früher schon, wie ein Blick in die Schulgeschichte von Güntersleben zeigt. Aber nicht, weil die Schule geschlossen war, sondern – im Gegenteil – weil ihnen ihre Kinder durch den Schulbesuch bei der häuslichen Arbeit fehlten.

Erst die Arbeit im Haus, im Stall und auf dem Feld. Und erst dann und soweit dafür noch Zeit blieb, der Schulunterricht. Noch Jahrhunderte nach Einrichtung der Schulen in den Dörfern war das die vorherrschende Meinung bei der Landbevölkerung. Es war ein langer und mühevoller Weg, bis sich allmählich die Einsicht und die Bereitschaft durchsetzte, dass ein regelmäßiger Unterrichtsbesuch notwendig und zum Besten der Kinder war. Die Pfarrer standen da meist ziemlich allein da. Von der Gemeindeobrigkeit konnten sie auch in Güntersleben über lange Zeit nur sehr eingeschränkt und oft nur widerwillig gewährte Unterstützung erwarten.

Zeit für die Schule nur im Winter

Noch bis nach 1700 war in Dörfern wie Güntersleben nur im Winterhalbjahr Unterricht. Im Sommer brauchten die Bauern ihre Kinder für die Feldarbeit und dachten nicht daran, sie für die Schule freizugeben. Erst ganz allmählich und sehr behutsam versuchte man den Unterricht weiter über das Jahr auszudehnen, „damit die Jugend im Sommer nicht alles vergesse, was sie im Winter gelernt“, wie der Fürstbischof 1701 schrieb. Aber auch 40 und 50 Jahre später mussten seine Nachfolger immer wieder von neuem dekretieren, dass in den Sommermonaten wenigstens eine oder zwei Stunden Schule am Tag gehalten wurde.

„Bequeme“ Unterrichtzeiten

Damit sich die Bauern – und das waren so gut wie alle im Dorf – damit anfreunden konnten, wurde es den einzelnen Ortschaften überlassen, dafür „bequeme Stunden“ festzulegen. Bequem nicht für die Schüler, sondern bequem in dem Sinne, dass der Arbeitsablauf auf dem elterlichen Hof möglichst wenig beeinträchtigt wurde. Daher begann die sogenannte Sommerschule von Mai bis Oktober in Güntersleben für die höheren Klassen früh um 5 Uhr und endete um 8 Uhr. Mit den unteren Klassen war man etwas gnädiger. Die mussten erst um 6 Uhr erscheinen und blieben bis 9 oder 10 Uhr. Im Winter durften alle etwas länger schlafen. Da begann der Unterricht um 7 Uhr (mit dem Gottesdienst). Das blieb so bis etwa 1870. Erst dann wurden die Unterrichtszeiten auch im Sommer für die Schüler etwas bequemer.

Säumige Schüler und nachlässige Eltern

Trotzdem blieb es ein zäher Kampf, die Schulpflichtigen halbwegs vollzählig in den Unterricht zu bringen. Es war ein Kampf mit den Schülern, aber kaum weniger mit den Eltern. Seit 1836 haben wir Jahresstatistiken, in denen detailliert festgehalten ist, wer wie oft fehlte. Da gibt es Schuljahre wie 1842/43 mit fast 500 unentschuldigten Fehltagen – bei nicht einmal 150 Schülern. Und das war längst nicht die Spitze. Es gab Jahre, da war die Zahl der Schulversäumnisse sogar doppelt so hoch.

Dabei hatte man schon 1819 in Güntersleben beschlossen, dass sich beim Läuten, das den Schulbeginn anzeigte, der Gemeindediener an der Schule einfinden sollte, „um die saumseligen Schulkinder vom Hause abzuholen und in die Schule zu führen“. Auf die Eltern konnte man sich da nicht unbedingt verlassen, heißt es doch in einem Protokoll von 1840: „Manche Familien unterstützen die Schule; viele Familienväter dagegen wirken garnicht mit.“

Vieles wichtiger als der Schulbesuch

Die Entschuldigungen der Eltern, soweit diese solche überhaupt für nötig erachteten, lassen an Einfallsreichtum nichts zu wünschen übrig.

Im April 1820 bat der Gemeindehirt, immerhin „geziemend“, da er seine 5 Kinder höchst nötig habe, ihm diese, „so oft und so lange er mit dem Gemeindevieh, also mit Kühen, Schweinen, Gänsen austreiben müsse, zu überlassen und von der Schulpflicht loszusprechen.“

Im Januar 1847 wurden Andreas Schubert und dessen Ehefrau wegen der Schulversäumnisse ihrer Kinder vor die Lokalschulkommission zitiert. Da sie der Vorladung nicht Folge leisteten, schickte man den Polizeidiener nach ihnen. Den Mann traf er zu Hause erst gar nicht an und die Frau beschied ihm, „sie könne aus Mangel der Kleidung nicht erscheinen.“ Der Polizeidiener musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Im Dezember 1860 erhielt der Polizeidiener den Auftrag, zwei säumige Geschwister zur Schule zu holen. Er traf sie zu Hause zwar an. Als er sie aber zum Mitgehen aufforderte, erhielt er vom Vater die Antwort: „Ich kann meine Kinder nicht zur Schule schicken, ich muß dreschen, wann ich ausgedroschen habe, werde ich sie schon wieder hineinschicken.“

Nach einem Eintrag im Schulprotokoll vom Mai 1867 entschuldigte ein Vater seine Tochter damit, dass er keine Schuhe für sie habe, dabei wurde diese „an anderen Tagen auf der Straße oder im Wald gesehen.“

Dabei setzte die Lokalschulkommission, die allmonatlich unter dem Vorsitz des Pfarrers zusammentrat, alle verfügbaren Zwangsmittel ein. Die älteren Schüler bekamen Geldstrafen, die der Ortsvorsteher eintreiben musste. Und wo man annahm, dass diese „voraussichtlich nicht zu exekutieren wären“, ging man dazu über, diese „durch Bestrafung resp. körperliche Züchtigung der betreffenden Schüler abzumachen“, wie es im Sitzungsprotokoll der Kommission vom Februar 1864 heißt.

Alle Mühe vergebens

Ein hoffnungsloser Fall war der 17-jährige Anton Spohr. Über den heißt es 1865, dass er zwar das Alter habe, aus der Sonntagsschule entlassen zu werden. Aber es sei verfügt worden, dass er diese noch einige Zeit besuchen müsse, „weil dessen Kenntnisse als ganz ungenügend sich erwiesen und derselbe sich nicht einmal die Mühe gegeben habe, eine Probeschrift zur Prüfung zu schreiben.“ Doch Anton Spohr dachte nicht daran, weiter zur Schule zu gehen. Er „wurde mehrmals verwarnt, vor die Schulverwaltung aufs Rathaus geladen, ließ vorsagen, er sei krank, obwohl er eine Stunde vorher vom Vorsteher und Ortsdiener auf der Straße gesehen worden war, erschien jedoch eine Stunde nachher, wurde wegen seines rohen Benehmens einige Stunden in der Schule eingesperrt, aber wieder ohne Erfolg.“ Man legte den Fall dem kgl. Bezirksamt vor, bat aber gleich, „keine Entschuldigung anzuneh­men, da der genannte Schüler behaupten wird, öfter auswärts zu arbeiten, was jedoch immer als unwahr sich erweist, da derselbe jeden Sonntag auf Straßen und in Wirtshäusern dahier zu sehen ist.“ Nachdem er weiterhin die Sonntagsschule nicht besuchte und auch noch an Fastnacht auf dem Tanzboden zu sehen war, brummte man ihm im März des folgenden Jahres erst noch einmal 3 Tage Arrest auf, musste sich dann aber eingestehen, dass alles nichts bewirkte. So stellte man Anton Spohr im April 1866 sein Entlassungszeugnis aus der Sonntagsschule aus. Abgeholt hat der es aber nicht. Deswegen liegt es noch heute im Pfarrarchiv und man kann nachlesen, dass Anton Spohr die Schule mit sehr geringem Fleiße besuchte, sich wenige Kenntnisse erwarb und ein sehr tadelhaftes Betragen pflegte. Die Noten waren entsprechend: Religion gering – Lesen hinlänglich – Deutsch schlecht – Schönschreiben hinlänglich – Rechtschreiben schlecht – Aufsätze hinlänglich – Rechnen schlecht – Gemeinnützige Kenntnisse schlecht. Schlussbemerkung: „Er besuchte Schule und Kirche sehr nachlässig, desto fleißiger aber das Wirtshaus.“ Danach verliert sich die Spur von Anton Spohr.

Geldstrafen und Arrest

Wie sollte man erwarten, dass die Kinder den Schulbesuch ernst nehmen, wenn den Eltern nichts daran gelegen war? Also nahm man auch die verschärft in die Pflicht. Es gab jede Menge Geldstrafen. Wurden die nicht gezahlt, ordnete das Bezirksamt an, das häusliche Mobiliar zu pfänden und zu versteigern. Bevor es so weit kam, zahlten dann doch die meisten. Wo nichts zu holen war, wie beim Schneidermeister Michael Päpst, erfolgte Anzeige an die Staatsanwaltschaft. Die war hier wie in anderen hartnäckigen Fällen nicht zimperlich. Mehr als ein halbes Dutzend Väter und auch Mütter mussten in den Jahren um 1870 Arreststrafen von ein bis drei Tagen in Würzburg absitzen, weil sie sich zu wenig um den Schulbesuch ihrer Kinder kümmerten.

Bevor die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde, machte manchmal auch noch der Pfarrer in seiner Funktion als Lokalschulinspektor einen letzten Versuch. Beispiel dafür mag ein Protokolleintrag vom Dezember 1896 sein. Weil er der Krankmeldung eines Schülers durch dessen Eltern nicht traute, machte er sich selbst auf den Weg, „um sich von der Wahrheit der Angabe zu überzeugen und fand den Schüler pfeifend und arbeitend im Hause vor.“ Ob die daraufhin von ihm auferlegte Geldbuße die Eltern fortan zu mehr Ehrlichkeit bewegte, weiß man nicht.

Lieber ins Wirtshaus

Nach dem Ende ihrer Volksschulzeit mussten die heranwachsenden Jugendlichen, in aller Regel bis zum 18. Lebensjahr, noch die Sonntagsschule besuchen. Sie war die Vorläuferin der Berufsschulen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt wurden; ihren Namen hatte sie, weil der Unterricht am Sonntag stattfand. Es kann nicht überraschen, dass es manche damit auch nicht allzu ernst nahmen. Vor allem die Wirtshäuser waren zu verlockend. Damit man ihn dort nicht antraf, ließ sich der 16-jährige Johann Zürrlein beim Hirschenwirt einen Maßkrug mit Bier einschenken und trug ihn nach Hause, wie das damals nicht so ungewöhnlich war. Pech für ihn war nur, dass er mit seinem Bierkrug auf der Straße gesehen wurde. „Derselbe erhielt Verwarnung nebst Verweis und wegen Wirtshausbesuches erhielt er 6 Stockhiebe.“ So nachzulesen im Schulsitzungsprotokoll vom 6. April 1913.

Im Krieg muss auch die Schule zurückstehen

Während des Kriegs musste man notgedrungen etwas nachsichtiger sein, wenn Kinder den Unterricht versäumten, weil ihre Väter abwesend waren und sie deren Arbeitskraft auf dem Hof ersetzen mussten. Als man im September 1917 feststellte, dass „eine größere Anzahl Kinder schon seit März und April dem Unterrichte ganz oder teilweise fern geblieben“ war, wurden die Eltern vorgeladen und auf die Pflicht hingewiesen, „die Kinder wenigstens an Regentagen und an Tagen, an denen die Arbeit nicht drängt, zur Schule zu schicken.“ Weil die Kinder nicht entschuldigt waren, erteilte man den Eltern pflichtgemäß immerhin eine Verwarnung. Auch in der verbleibenden Kriegszeit ging man mit eigentlich strafbaren Schulversäumnissen „wegen bestehender Notlage“ nachsichtig um und betrachtete diese als entschuldigt.

Wenn heute Schulkinder von ihren Eltern als vorgeblich krank entschuldigt werden, und das unmittelbar vor Ferienbeginn, dann nicht, weil sie zur Arbeit gebraucht würden, sondern weil man zur Vermeidung von Verkehrsstaus die Abreise in die Ferien vorziehen will. Jede Zeit hat eben ihre eigenen Prioritäten.

07/2022