Tadelhafter Lebenswandel und Dienstesnachlässigkeit

28. Juni 2022

Tadelhafter Lebenswandel und Dienstesnachlässigkeit

 In der Ausgabe vom 10. Februar 1838 erschien im Intelligenz-Blatt von Unterfranken und Aschaffenburg – so nannte sich damals das Amtsblatt der Regierung – unter den vermischten Anzeigen folgender Nachruf:

„Dem aus unserer Mitte geschiedenen, von der königlichen Regierung von hier nach Hersch­feld bei Neustadt versetzten II. Lehrer, Herrn Michael Schäfer, sagen wir ein herzliches Le­behoch, mit dem Wunsche, denselben wegen unserer weinenden Kinder und der Bildung des dahiesigen Musikchors bald wieder in unserer Mitte zu sehen.
Güntersleben, 1. Februar 1838.
Die dankbare ganze Gemeinde, zum Zeugen die unterzeichnete Gemeindeverwaltung: Sebastian Kettemann Vorsteher, Melchior Beck, Pfleger, Matern Pröstler, Lorenz, Keß, Georg Feser, Adam Christ.“

Wer bei den Unterzeichnern fehlte, war der Pfarrer. Dabei hätte der als Lokalschulinspektor eigentlich zuerst dazu gehört. Und dass der fehlte, hatte seinen Grund. Denn vier Wochen vorher hatte er dafür gesorgt, dass der Junglehrer kurzfristig abberufen wurde. Und zwar sah er sich „vermüßiget“, der vorgesetzten Schulbehörde eine „Anzeig und Bitte“ vorzulegen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen ließ:

„Der II. Schul­lehrer dahier Michael Schäfer hat sich seit seines kurzen Hier­seins eines mißfallend unsittlichen Betragens zu Schulden kommen lassen.

  1. a) geht er häufig nach Würzburg, nach Erlabrunn, nach Rimpar, nach Veitshöchheim, wo er selten um Erlaubnis anfragt,
  2. b) ist er schon 2 – 3 mal betrunken nachts spät nach Hause gekommen, hat sich mit seinen angezogenen Kleidern ins Bett gelegt, das Licht im Zimmer brennen lassen, bis endlich der Ortsvorsteher in das Zimmer kam und das Licht auslöschte.
  3. c) hat sich derselbe am 26. Dezember vormitternachts folgende unsittliche Handlung zu Schulden kommen lassen: Die Ortsmusikanten verzehrten in seinem Lehrzimmer 2 Achtel Wein von ihrem Jahresgehalt, bei welcher Zusammenkunft sich auch ein Singmädchen be­fand. Da auch Schreien bei dieser Gesellschaft sich hören ließ, ermahnte sie der I. Schul­lehrer Roth, der gegenüber wohnt, um 9 Uhr zur Ruhe. Allein sie verlachten ihn und trie­ben ihr Unwesen fort. Nach 10 Uhr kam der Ortsvorsteher, um die Versammlung zu tren­nen, und fand den fraglichen Schullehrer Schäfer betrunken. Nun wollte Ortsvorsteher auch das Schlafzimmer des genannten Schullehrers öffnen. Dies zu tun, widersetzte sich Schäfer. Doch gelang es dem Ortsvorsteher und er fand in des Schullehrers Bett das oben genannte Singmädchen angekleidet liegen, welches er herauszog und aus dem Schlafzim­mer schaffte.
  4. d) Endlich war gestern im Wirtshause zum schönen Brunnen dahier Tanzmusik. Auch dieser eilte der II. Schullehrer Schäfer in Gesellschaft des Forstgehülfs zu. Seine Unterhaltung war Tanzen und Trinken und da sein bei sich habendes Geld nicht zureichte, so musste er bei dem hiesigen Ortsbürger Adam Rothenhöfer 35 Kreuzer lei­hen. Ferner soll er verflossene Nacht zwischen 2 und 3 Uhr mit dem Forstgehülf dem Wohn­haus des oben genannten Singmädchens entgegen geeilt sein, dann heute früh zwischen 4 und 5 Uhr sein Wohnzimmer gefunden haben. Es ist nicht zu vergessen, dass heute früh die Schulkinder circa ½ Stund vor der Schultüre in der Kälte mussten abwarten, bis er die Türe öffnete und sie ein­gehen konnten. Sogleich darauf eilte ich, als Pfarrer und Lokalschulinspektor, der Schule zu, fand die Schuljugend versammelt, aber ohne Schullehrer. Ich klopfte an dessen Schlaf­zimmers Türe, 1 – 2 – 3 mal, und endlich wurde es geöffnet, und halb angekleidet, ging er berauscht in selbem herum. Mit sanften Worten fragte ich ihn, wo er die Nacht zuge­bracht und wann er nach Hause gekommen wäre, und er konnte wegen Betrunkenheit kaum antworten. Das wüsste er nicht, ich sollte andere Leute fragen. Ich ging ab.

Da nun dies auffallend unsittliche Betragen in der ganzen Ge­meinde bekannt, sohin alle Achtung verloren, so findet sich unterzeichnete Lokalschul­inspektion in die dringende Notwendigkeit versetzt, die königl. Distriktsschulinspektion drin­gends zu ersuchen, bei der königl. Regierung sich zu verwenden, dass dieser Michael Schäfer baldmöglichst von hier versetzet und ein anderer fleißiger und rechtschaffener als II. Schullehrer gnädig hierher angewiesen werden wolle.“

Der Pfarrer erreichte bei diesem Sündenregister schnell, was er wollte. Der Gemeindeverwaltung, die den beliebten Junglehrer offenbar behalten wollte, blieb nur der ironische Nachruf. Der hatte allerdings noch ein Nachspiel. Die Regierung meldete sich beim Landgericht, das die Rechtsaufsicht über die Gemeinde hatte, in der Causa Michael Schäfer: „Da dieser wegen tadelhaften Lebenswandels und Dienstesnachlässigkeit auf Antrag der k. Lokal- und Distriks-Schulinspektion von Güntersleben versetzt werden musste, was der Gemeindeverwaltung nicht unbekannt sein konnte, so ist dieselbe wegen jenes ungeeigneten Inserates zur Verantwortung zu ziehen und nach Befund nachdrücklich zu beahnden. Dass die Kosten der Einrückung der Gemeinde nicht aufgerechnet werden, hierüber wird das kgl. Landgericht wachen.“ Wie das Landgericht die Weisung der Regierung umsetzte, ist nicht bekannt.

Michael Schäfer hatte in der kurzen Zeit, die er in Güntersleben war, die Stelle des II. Lehrers inne, die 1821 wegen der zunehmend größeren Schülerzahl eingerichtet worden war. Bis dahin hatte Güntersleben nur einen Lehrer, der jetzt der I. Lehrer war und die höheren Schuljahrgänge unterrichtete. Der II. Lehrer war üblicherweise ein jüngerer Mann, der in den ersten Dienstjahren und manchmal auch noch in der Ausbildung stand und in der Regel noch unverheiratet war. Denn auch noch für die II. Lehrer eine Familienwohnung – wie schon für den I. Lehrer – bereitzuhalten, wollte oder konnte sich die Gemeinde nicht leisten. Diese mussten daher mit einem mickrigen Kämmerlein vorliebnehmen. Wollte einer sich dann doch verehelichen, was hin und wieder vorkam, dann musste er sich selbst eine Wohnung im Dorf suchen und diese auch finanzieren.

Dass die jungen Lehrer in ihrer schulfreien Zeit nicht in ihren vier Wänden versauern wollten, kann man sich denken. Und so entsprach ihr Lebenswandel nicht immer dem, was man gemeinhin von einem Lehrer oder Lehramtsanwärter erwartete. So beklagte die kgl. Regierung in einem Rundschreiben an die lokalen Schulbehörden vom 4. Oktober 1827, „daß die meisten jüngeren Lehrer außer der Schulzeit nur dem Müßig­gange nach­gehen, und einer unangemessenen Zerstreuung und Ge­nußsucht sich hingeben.“ Zwei Jahre später berichtete die Regierung neuerlich von Klagen „über den Unfleiß, sowie über ein unsitt­liches und ärgerliches Betragen mancher Schulamtsexspektanten, welche als 2. Lehrer oder Schulgehilfen eingesetzt sind.“ Die unteren Schulbehörden wurden daher zur „geschärf­ten Auf­sicht über das Lehrerpersonal im Allgemeinen, insbesondere aber der un­verehe­lich­ten Schulverweser, zweiten Lehrer und Schulge­hil­fen“ aufgefordert.

Der Junglehrer Schäfer war nicht der Einzige, der in Güntersleben unangenehm auffiel. Im Protokollbuch der Lokalschulinspektion, in den Jahresberichten und in den Visitationsberichten der Schule findet man zahlreiche Einträge über pflichtwidriges Verhalten der Junglehrer.

So ist unter dem 7. November 1841 festgehalten, dass der II. Schullehrer Oegg bei der letzten Schulprüfung abwesend gewesen sei und die „zu erwerbende Erlaubnis hierzu bis jetzt nicht beigebracht“ habe. Als er einen Monat später wieder einmal in die Stadt gehen wollte, hielt der Pfarrer, der als Lokal-Schulinspektor sein Vorgesetzter war, „den Grund, Sachen einzukaufen, für unzureichend. Gleichwohl ging derselbe fort und versäumte so die Schule“.

Wie fast alle II. Lehrer blieb auch Oegg nur für einige Jahre in Güntersleben, um sich dann auf eine besser dotierte Stelle im Umkreis zu bewerben. 1844 folgte ihm als II. Lehrer Karl Roth, der Sohn des damaligen I. Lehrers. Doch der hatte nach zwei Jahren genug von der Schule, beantragte seine Entlassung und übernahm das Wirtshaus zum Schönbrunnen unten an der Langgasse. Bald scheint ihn aber sein Entschluss gereut zu haben, denn nur ein Jahr später beantragte er seine Wiederaufnahme in den Schuldienst. Das verwehrte ihm aber die Regierung, weil er sich „inzwischen gegen den Pfar­rer Merz zu Güntersleben, da solcher sein vorgesetzter Lokal-Schulinspektor war und dem er als seinem Pfarrer und Seelsorger auch jetzt noch Achtung und Ehrerbietung schuldig ist, so weit vergessen hat, dass er von dem Landgericht Würzburg auf erhobene Beschwerde zu einer 48-stündigen Arreststrafe und zur Abbitte vor versammeltem Ge­meindeausschuss verurteilt werden musste.“ Notgedrungen blieb Roth noch ein paar Jahre Wirt, dann verließ er Güntersleben in Richtung Würzburg.

Ein ganz besonderer Fall war der „Schulgehilfe“ Otto Hummel. Sein Vater August Hummel war von 1854 bis 1861 in Güntersleben I. Lehrer. Die letzten Jahre immer weniger in der Lage, den Unterricht zu halten, stand ihm sein Sohn auf Anordnung oder zumindest mit Duldung der Schulaufsicht zur Seite. Otto Hummel fehlte dafür nicht nur die Ausbildung, sondern auch die charakterliche Eignung. „Der Schulgehilfe Otto Hummel ist äußerst leichtfertig in religiöser und sittlicher Hinsicht, hochgetragen und arrogant. Wegen seines auffallend bewiesenen Ungehorsams gegen H. Lokalschulinspektor und wegen seines frech erzeigten respektwidrigen Benehmens gegen H. Pfarrgeistlichen mußte öfters die k. Distriktsschulinspektion gegen ihn einschreiten.“ So urteilte der Pfarrer im Jahresbericht 1859. Die höhere Schulaufsichtsbehörde erteilte Hummel dafür zwar einen Verweis und forderte von seinem Vater zudem eine Erklärung, „wie lange noch er des Gehilfen bedürfe, weil die Entfernung dieses in jeder Hinsicht erwünschlich erscheint.“ Passiert ist aber erst einmal nichts, im Gegenteil. Es kam noch schlimmer. „Heute in der Frühschule mißhandelte der Schulgehilfe Otto Hummel meinen Sohn Kaspar derart, daß ich hierzu nicht schweigen zu dürfen glaubte. Er raufte demselben erst stark an den Haaren, schlug ihn sodann mit einem Stocke auf den Kopf, raufte ihn dann abermals an den Haaren, stieß ihn dann mit dem Kopfe an die Tafel, daß er über heftige Schmerzen an seinem ganzen Kopfe klagt.“ Die Beschwerde des Ortsbürgers Michael Keupp, vom Pfarrer unter dem 24. Januar 1861 niedergeschrieben, war nicht die einzige dieser Art. Ein weiteres Beispiel, das die Frau des Heinrich Erk dem Pfarrer mitteilte: „Der Schulgehilfe Otto Hummel hat heute früh in der Schule meinen Sohn der Art mißhandelt, daß ich mich als Mutter für verpflichtet halte, beim Pfarramte Anzeige zu machen mit der Bitte um Abhilfe. Er hat meinen Sohn an den Haaren gerauft, mit dem Stock auf den Kopf geschlagen, mit der Hand aber ins Angesicht, daß der Mund ganz angeschwollen ist. Auch nahm er ihn bei den Ohren und riß in an denselben, obgleich er schon am Gehöre leidet. Ich weiß recht gut, daß man ohne Strafen keine Kinder groß ziehen kann, aber diese Bestra­fungsweise ist gewiß nicht für Kinder entsprechend, sie muß vielmehr nachteilig auf das Gehör und Gedächtnis der Kinder wirken und kann noch andere Folgen nach sich ziehen. Ich stelle daher die Bitte um Abhilfe.“ Bevor sich die Schulbehörde zu dieser mehr als überfälligen Abhilfe durchringen konnte, starb noch im gleichen Jahr der Vater und I. Lehrer August Hummel. Damit war auch die Laufbahn seines Sohnes in Güntersleben zu Ende.

Auch in der Folgezeit gab es immer wieder Anlass, so manchen Junglehrer „nachdrücklichst zu größerem Fleiße und zu mehr Eingezogenheit in seinem außerdienstlichen Verhalten“ zu ermahnen. Wie die höhere Schulbehörde im Anschluss an eine Schulprüfung 1887 verlauten ließ, würden „günstigere Resultate“ erzielt, wenn die beiden Junglehrer, die Güntersleben damals hatte, „die ihnen so reichlich zugemessene freie Zeit mehr zu sorgfältiger Vorberei­tung auf den Unterricht ausnützen würden“. Dem Pfarrer wurde die „Bekanntgabe an die betreffenden Lehrer, denen genaue Beobach­tung der bezüglichen Anordnungen einzuschärfen ist, und Hinterlegung in der ein­schlägigen Schulrepositur“ aufgegeben. Weil der auch dem letztgenannten Auftrag gewissenhaft nachkam, können wir heute im Pfarrarchiv nachlesen, wie sehr die jungen Lehrer seinerzeit der ständigen Aufsicht bedurften.

Nicht genug also, dass Güntersleben über die meiste Zeit des 19. Jahrhunderts kein Glück mit seinen Schulleitern, den I. Lehrern, hatte. Auch die zu ihrer Unterstützung zugewiesenen Junglehrer nahmen es mit ihren Pflichten nicht sonderlich ernst. Wenn dann auch noch, wie eingangs dargestellt, die Gemeindeverwaltung dem Pfarrer in den Rücken fiel, dann zeigt das, wie wenig den Ortsoberen im Dorf damals noch an einem geordneten Schulbetrieb gelegen war.

06/2022