Wirtshausgeschichten

24. Mai 2025

Wirtshausgeschichten

Weit mehr als heute waren die Wirtshäuser früher Mittelpunkte des Lebens im Dorf. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren sie neben der Kirche praktisch die einzigen Räume, in denen sich die Dorfbewohner, meist die Männer, in größerer Zahl treffen konnten. Sie waren Begegnungsstätte in vielerlei Hinsicht. Ins Wirtshaus ging man, um nach getaner Tagesarbeit oder am Sonntag mit anderen in Ruhe ein Bier zu trinken, besuchte Festabende, Versammlungen oder vergnügte sich bei Tanzveranstaltungen. Nicht immer ging es dabei geordnet und friedlich zu. Es gab hitzige oder gesprengte Wahlversammlungen, Stammtische, an denen die neuesten Gerüchte ausgebreitet, die Dorfpolitik diskutiert und manchmal auch Dorfpolitik gemacht wurde, mitunter mit reichlich Bier und Wein angeheizt.

In den Wirtshäusern spiegelte sich das dörfliche Geschehen in allen seinen Facetten. Sie standen, wie man so sagt, mitten im prallen Leben. Darum ranken sich um sie auch so viele Geschichten, von denen einige hier wiedergegeben seien.

Messwein für den Pfarrer und Weingulden für das Dorfgericht

 „Anno 1685, den 19. November ist dem ehrsamen Meister Stephan Bauer von Ober Dälheim die gemeine Schenkstatt dahier von Herren Leonhard Salfelder, Schultheißen, Bürgermeister und Gericht ein Jahr lang von Petri Cathedra anno 1686 bis wiederum auf denselben Anno 1687 verliehen. Von welcher er der Gemeinde das Jahr 18 fl Hauszins und 1 fl einem ehrbaren Gericht zum Weinskauf geben solle und sich mit Herrn Pfarrern wegen des Messweins vergleichen, so gut er kann…“

So oder ähnlich wie in dieser Vereinbarung von 1685 lauteten die Bedingungen, unter denen die Gemeinde Güntersleben ihr Wirtshaus in der Dorfmitte verpachtete. Die „gemeine Schenkstatt“ war eine Einrichtung der Gemeinde, vergleichbar den Ratskellern, die man in manchen Städten noch kennt. Sie wird schon in der ältesten Dorfbeschreibung von 1594 erwähnt. Nach dem Verkauf wurde 1723 daraus das „Gasthaus zum Hirschen“, bis gegen 1800 das einzige Wirtshaus im Dorf.

Die Gemeinde verpachtete ihre Schenke meistens für ein Jahr, es konnten aber auch bis zu drei Jahre sein. Bei der Festlegung der Vertragszeit orientierte man sich herkömmlich an kirchlichen Fest- oder Gedenktagen. Mit Petri Cathedra am 22. Februar, volkstümlich in deutscher Übersetzung Petri Stuhlfeier, erinnert die Kirche an die Berufung des Apostels Petrus zum ersten Papst.

Wie die meisten Wirte kam auch Stephan Bauer von auswärts. Mit Ober Dälheim ist vermutlich Obertalheim in Baden-Württemberg gemeint, seit 1975 zur Stadt Horb gehörend. Stephan Bauer hatte die Gemeindeschenke mit Unterbrechungen schon mehrmals übernommen, sich aber in Güntersleben nicht ansässig gemacht, sondern nach dem Ablauf seiner Vertragszeit das Dorf offenbar wieder verlassen, vielleicht um sich anderswo als Wirt zu bewerben.

Die als Hauszins bezeichnete Jahrespacht von 17 fl (Gulden) dürfte nach heutigem Geldwert etwa bei 800 bis 900 Euro gelegen haben. Mit der Auflage, dem Pfarrer den Messwein zu liefern, übertrug ihm die Gemeinde eine Verpflichtung, die eigentlich ihr oblag. Sie gehörte zu den Leistungen, die sie seit alters her übernommen hatte, damit dem Dorf ein Pfarrer zugewiesen wurde.

Schließlich dachten die Mitglieder des Dorfgerichts auch an sich selbst. Das Dorfgericht mit zwölf Männern aus dem Ort und dem Schultheiß als Vorsitzenden hatte für Recht und Ordnung zu sorgen und war damit in gewisser Weise Vorläufer des Gemeinderats. Wer ein Anliegen vor das Gericht bringen wollte, musste dazu ein bestimmtes Quantum Wein beigeben. Für den Verfasser einer Ortsbeschreibung von 1798 „ein sicherer Beweis … von der herrschenden Gewohnheit, bei Zusammenkünften zu saufen.“

Aus dem Wirtshaus verscheucht

 Wirtshäuser waren in früheren Jahrhunderten weit mehr als heute von besonderer Anziehungskraft auf Jugendliche. Konnten sie doch von Freizeitangeboten, wie wir sie heute kennen, nicht einmal träumen. Bis zur Entlassung aus der Sonntagsschule, einer frühen Form der Berufsschule, die sich an die sogenannte Werktagsschule anschloss und etwa bis zum 18. Lebensjahr dauerte, durfte man sich aber im Wirtshaus nicht erwischen lassen, zumal dann nicht, wenn dort zum Tanz aufgespielt wurde. Doch was immer die Lehrer, der Pfarrer, die Dorfoberen und die Schulaufsicht an Strafen sich auch einfallen ließen, der Reiz des Verbotenen war allemal größer, wie zahllose Einträge in den Schulakten zeigen.

Im März 1828 verhängte die Schulleitung, wie so oft, wieder einmal Geldstrafen gegen eine Anzahl Sonn- und Werktagsschüler, die trotz des Verbots, das der Pfarrer von der Kanzel verkündet hatte, auf „öffentlichen Tanzböden“ gesehen wurden. Weil die Geldstrafen nicht die erhoffte Wirkung zeigten, empfahl die Schulaufsichtsbehörde am Landgericht im August 1833, gegen Jugendliche, die das Verbot missachteten, „mit angemessenen Körperstrafen“ einzuschreiten. Für die Fastnachtstage 1836 ließ sich der Ortsvorsteher höchstpersönlich in die Pflicht nehmen, „etwa anzutreffende Schüler aus den Wirtshäusern zu verscheuchen“ und der Pfarrer „versprach, dieses Verbot wiederholt von der Kanzel bekannt zu machen.“ Im Juni 1877 wusste sich die Schulleitung nicht mehr anders zu helfen, als vier Schüler, weil sie das Wirtshaus besucht hatten, der Staatsanwaltschaft zur Bestrafung anzuzeigen.

Noch ein Beispiel, das zeigt, was man sich – mit mäßigem Erfolg – noch so einfallen ließ, um „die Übertreter“ zu disziplinieren: Als wieder einmal „zehn Knaben“ kurz vor Ende ihrer Schulzeit im Wirtshaus gesehen wurden, wollte ihnen die Schulleitung die Entlasszeugnisse erst einmal nicht aushändigen, sondern die Sünder noch einige Tage die Schulbank drücken lassen. Die Schulaufsicht wies darauf hin, dass solches in der Schulordnung nicht vorgesehen sei, und regte stattdessen auch in diesem Fall eine „körperliche Züchtigung“ mittels Lehrerstock an. Diese sollte, so der weitere Hinweis, „ausgiebig und wirksam durch den Schuldiener vollzogen werden.“ Das war 1898.

Schlechte Vorbilder

 Früher wie heute zeigt die Erfahrung: Mehr als alle Ermahnungen und Strafen bewirkt das gute Vorbild. Und da sah es in Güntersleben nicht immer zum Besten aus.

1820 wurde der Schulleiter Valentin Faulhaber, weil er „dem Trunke ergeben“ war, wegen Dienstuntauglichkeit vorzeitig in den Ruhestand geschickt. 1853 ging bei der Regierung eine Beschwerde gegen einen Junglehrer ein. Vorsorglich wies der Anwalt der Beschwerdeführer für den Fall, dass die Regierung wie üblich von den Ortsbehörden dazu Berichte einfordern sollte, schon einmal darauf hin, dass besagter Lehrer, der Herr Pfarrer und der Ortsvorsteher gute Freunde seien, „die täglich miteinander im Wirtshause trinken und spielen.“ Das Landgericht hörte dann auch tatsächlich bei seinen Ermittlungen von angesehenen Ortsbürgern, der Pfarrer „betrinke sich häufig im Wirtshause so, dass er nach Hause geführt werden müsse, und auch von Würzburg aus sei er schon betrunken nach Hause gebracht worden. Dagegen vernachlässige er sehr sein Predigeramt, so daß er seit Weihnachten kaum achtmal gepredigt habe.“ Dass nur der junge Lehrer eine Rüge bekam, die sein weiteres Fortkommen verzögerte, über das Verhalten der beiden anderen Beteiligten aber hinweggesehen wurde – wen überrascht das?

Wirtshausverbote

 Für Saufbrüder aus dem gemeinen Volk hatte man schon immer ein probates Mittel, nämlich das Ausschankverbot, allgemein, wenn auch nicht ganz zutreffend, als Wirtshausverbot bekannt.

In früherer Zeit war man dabei etwas gnädiger. 1816 wurde den beiden Wirten am Ort untersagt, dem Johann Lorenz, wenn er nüchtern zu ihnen komme, mehr als ein halbes Maß Wein einzuschenken. „Sollte er aber von fremden Orten herkommen und schon etwas getrunken haben, so kann ihm vom Wirte garnichts mehr gereichet werden.“

Im Dritten Reich ging man, wie auch sonst, schon rigoroser vor. Nicht nur, dass man dabei viel öfter und schneller bei der Hand war. Ein Familienvater, der das Trinken nicht lassen konnte und sich über das Verbot hinwegsetzte, kam nur mit knapper Not an einer Einlieferung in das KZ Dachau vorbei. Den Wirten und Flaschenbierhändlern wurde bei Verstößen mit dem Entzug der Konzession gedroht. Den verschleppten polnischen Zwangsarbeitern, die kurz nach Kriegsbeginn bei Bauern im Dorf arbeiten mussten, war der Besuch von Gasthäusern generell verboten. Eine hiesige Wirtsfrau, die von dem Verbot nichts gewusst haben will und nach Feierabend Bier an polnische Arbeiter abgab, hatte Glück, dass sie mit einem Eintrag in die Akten der Gestapo davonkam.

Ausschankverbote verhängte das Landratsamt noch bis 1970. Sie wurden mit den Namen der Betroffenen im Amtsblatt bekanntgemacht, damit die Wirte im gesamten Landkreis informiert waren. Dann wurde diese Praxis eingestellt, aber nicht aus Gründen des damals noch kaum beachteten Datenschutzes, sondern weil die Verbote immer weniger Wirkung entfalteten.

Die Gläser zu klein und das Bier zu jung

 Lebensmittelkontrollen sind nicht erst eine Errungenschaft unserer Zeit. Niederschriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich entnehmen, dass seit 1850 der Ortsvorsteher mit dem Polizeidiener und dem Schulmeister als Protokollführer jeden Monat seinen Rundgang bei den Bäckern, Krämern, Metzgern und Wirten machte, um die Qualität und das Gewicht des Brotes, die Sauberkeit der Verkaufsräume, das Eichmaß der verwendeten Gefäße und anderes mehr in Augenschein zu nehmen. Meistens vermerkt das Protokoll, dass „alles in bester Ordnung“ war. Aber es gab auch Beanstandungen, hin und wieder auch bei den Gastwirten.

So wurden bei einer Kontrolle im April 1855 bei dem Gastwirt Schömig zwei Bierkrüge „zu klein befunden und das Zurückstellen befohlen.“ Immerhin fand man die Getränke selbst „in Ordnung und der Gesundheit nicht abträglich.“ Im Jahr darauf gab es allerdings bei ihm und einem weiteren Wirt Beanstandungen zum Bier aus einer Würzburger Brauerei, „welches zu jung befunden wurde.“ Den Wirten wurde zur Auflage gemacht, „kein Bier mehr zu verzapfen, welches nicht gehörig abgelegen ist.“ Wieder ein Jahr später hatte man gleichfalls beim Hirschenwirt am Wein und am Brandwein nichts auszusetzen. Allerdings findet sich im Protokoll die doch überraschende Feststellung: „Bier war nicht vorhanden.“

Bald nach der Eröffnung des Gasthauses zur Krone in der Rimparer Straße stattete man auch diesem im Frühjahr 1866 einen Kontrollbesuch ab und nahm dabei auch die Getränkevorräte in Augenschein. Mit umgerechnet 10 Hektolitern Most hatte er für die ersten Gäste gut vorgesorgt. Der Wirt, der das Gasthaus an der Langgasse betrieb, hatte sogar einen Vorrat von 40 Hektolitern im Keller liegen. Möglicherweise hatte er sich aber beim Einkauf etwas übernommen, denn bald darauf war er pleite.

Die regelmäßigen Kontrollen dienten zum einen dem Schutz der Verbraucher vor gesundheitlichen Risiken und betrügerischen Geschäftspraktiken, zum anderen aber auch der Sicherstellung ausreichender Vorräte bei den Grundnahrungsmitteln. Daher mussten die Bäcker mit Beanstandungen und sogar Strafandrohungen rechnen, wenn sie am späteren Nachmittag nicht mehr genug Brotlaibe im Regal hatten.

Wer einen Verkaufsladen oder ein Gasthaus betrieb, wurde also auch in die Pflicht genommen, zu jeder Zeit ein Angebot bereitzuhalten, das den Bedarf deckte. Andererseits war man aber auch darauf bedacht, dass gerade Wirtshäuser nicht der Genuss- oder Verschwendungssucht Vorschub leisteten. Wer als Gastwirt zugelassen werden wollte, musste also nach der Einschätzung der Behörden die Gewähr bieten, dass er sein Gewerbe nicht zur Förderung der Völlerei nutzen werde. Mit Völlerei meinte man den übermäßigen Genuss von Speisen und Getränken, der nach christlicher Lehre als sündhaft gilt. Heute gelten die gleichen Kriterien für die Eignung, aber mit der Einschränkung, dass statt Völlerei nur noch der mögliche Alkoholmissbrauch eine Rolle spielt. Wäre die Förderung übermäßigen Speisenverzehrs heute auch noch ein Ausschlussgrund, müsste so mancher Genusstempel schließen.

Wirtshausschlägereien

Lautstarke Auseinandersetzungen am Stammtisch, Raufereien, Randale durch alkoholisierte Gäste und anderes mehr gehören zu unserem Bild über die Wirtshäuser in früherer Zeit. Sie sind nicht nur in die mündliche Überlieferung eingegangen. Man findet Berichte über derartige Vorgänge an den verschiedensten Stellen in den Archiven und oft in bemerkenswerter Ausführlichkeit und lebensnah dokumentiert wie die folgenden.

Im September 1818 erstattete der Ortsvorsteher von Güntersleben dem Landgericht „gehorsamst“ Bericht über eine „vom Joh. Fritz Engelwirth angebrachte Ausschweifung“ in seinem Lokal an der Langgasse. Demnach seien kurz vor 10 Uhr abends ein paar junge Männer ins Wirtshaus gekommen und hätten Getränke „um bare Zahlung“ verlangt, die ihnen der Wirt „anfänglich durch mannigfaltige Ausflüchte versagte, dann mit Unwillen und mürrischer Miene reichte. Hierbei wurden dem Engelwirth 2 Trinkgläser verbrochen und ein Fensterscheublein eingeworfen… Auch hing am folgenden Morgen sein Wirtsschild krumm u. gleichsam abgerissen an seinem Wirtshause … Niemand könne aber behaupten, ob es wegen Alters von ohngefähr oder vom Wind oder von jemand anders geschehen sei.“  Spätestens im nächsten Satz wird klar, dass der Wirt bei den Gemeindeoberen nicht im besten Ruf stand. Denn es ersehe sich aus dem Ganzen, „daß der Eigensinn und die Unart des Engelwirths, womit er die Gäste bewirthete, die einzige Ursache des ganzen Vorfalls war.“

Um noch einiges ruppiger ging es an einem Abend im Oktober 1846 im Hirschen zu, wie der Gemeindediener am folgenden Tag zu Protokoll gab: „Ich ging gestern Abend in das Gasthaus zum Hirschen, um Aufsicht zu halten, indem viele junge Leute in demselben waren und lärmten. Georg Rothenhöfer kam mit einem vollen Glase auf mich zu und nötigte mich, daraus zu trinken. Ich schlug es ab. Darauf äußerte er: Du kriegst noch Hiebe wegen des Haussuchens und auch der Vorsteher; den Vorsteher scheiß ich voll, ich scheiß ihn zum Arsch naus. Hierauf gab er mit 4 Stöße auf der Brust und ich fiel 2 mal zu Boden. Der Wirt Michael Schömig legte sich hierauf ins Mittel, Rothenhöfer ging aus dem Hause und forderte mich hinaus und sagte, ich müßte noch unter solchem sterben. Der Wirt ließ mich die ganze Nacht über nicht aus seinem Haus, weil er befürchtete, daß mir dieser Rothenhöfer einen Streich versetzen möchte.“

Da zeigte sich der Landwirt schon einsichtiger, der sich an einem Sonntag im Oktober 1953 am Stammtisch in der „Krone“ über den Bürgermeister ausgelassen hatte. In einem öffentlichen Aushang leistete er Abbitte, versprach, künftig keine unwahren Behauptungen und Gerüchte mehr zu verbreiten und wünschte sich mit dem Bürgermeister „stets nur beste Zusammenarbeit.“

Großbrand und Neubau

Die ehemalige Gemeindeschenke, später Gasthaus zum Hirschen, hat zwar mit über 400 Jahren eine lange geschichtliche Tradition als Wirtshaus. Vom ursprünglichen Bestand des Gebäudes ist jedoch nichts mehr erhalten. Die seit 1594 nachgewiesene Gemeindeschenke musste 1732 einem Neubau weichen, dem zwischen 1805 und 1824 abermals ein weiterer Neubau folgte. Das heutige Gebäude, seit 2000 kein Gasthaus mehr, sondern Arztpraxis, wurde 1907 gebaut.

Vorausgegangen war im August 1902 ein Großbrand, der in einer Scheune auf dem übernächsten Hof neben dem Gasthaus zum Engel ausgebrochen war. Das Anwesen gehörte ebenfalls dem Hirschenwirt. In der Scheune lagerten Farbfässer eines Malers, die eins ums andere explodierten und nach Augenzeugenberichten ein geradezu bengalisches Feuerwerk auslösten. Alle Gebäude zwischen den beiden Wirtschaften – zwei Wohnhäuser, zwei Scheunen und Ställe – brannten nieder. Der „Hirschen“ selbst wie auch der „Engel“ blieben aber verschont.

Nach der Brandkatastrophe baute der Hirschenwirt Johann Schömig zunächst einen neuen Hof weiter unter in der Würzburger Straße. Erst nach seinem Tod ließ seine Witwe Magdalena 1907 das alte Wirtshaus abbrechen und den neuen „Hirschen“ mit seiner heute noch beeindruckenden Fassade in der Ortsmitte bauen. Der Ausleger mit dem goldenen Hirsch hoch über der Straße erinnert daran, dass hier nahezu weitere 100 Jahre Wirtshausgeschichte geschrieben wurde.

Reich durch eine vergessene Kriegskasse?

 Die Nachkommen von Valentin Schömig aus Rimpar, der 1763 die Hirschenwirtschaft gekauft hatte, schafften rasch den Aufstieg zur wohlhabendsten Familie in Güntersleben, die sie das ganze 19. Jahrhundert über waren. Noch länger hielt sich das Gerücht, dass sich ihr Reichtum auf eine preußische Kriegskasse gründete, die beim überstürzten Aufbruch einer Militäreinheit in der Hirschenwirtschaft zurückgeblieben sei. Beweise dafür gibt es nicht, aber auch von einem ernsthaften Dementi ist nichts bekannt. Historisch belegbar ist nur das folgende.

Während der Kriege, die Frankreich zwischen 1792 und 1815 gegen Österreich, Preußen und deren weitere Verbündeten führte, gab es auch Gefechte in unserer Gegend und wiederholt Einquartierungen von Truppenteilen in Güntersleben. 1806 wurde Michael Schömig, der nach dem Tod seines Vaters Valentin dessen Nachfolge als Wirt des Hirschen angetreten hatte, ein Gesamtvermögen mit dem für damals außergewöhnlich hohen Gesamtwert von 9.000 Gulden amtlich attestiert. 1924 bezifferte er selbst sein Vermögen aus Anlass seiner Verehelichung nochmals deutlich höher mit über 13.000 Gulden.

Als sich nach den 1815 zu Ende gegangenen langen Kriegszeiten und infolge der damaligen Missernten viele Familien verschulden mussten, hatte Schömig genügend flüssige Mittel, um weniger Begüterten Kredite gegen gute Verzinsung zu gewähren. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts war Michael Schömig der mit Abstand größte Steuerzahlen und nach wie vor der größte Geldverleiher im Ort, als es hier noch keine Kreditinstitute gab. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als sich die Anzahl der Stimmen, die man in der Gemeindeversammlung abgeben konnte, nach der Steuerleistung richtete, lagen die drei Söhne von Michael Schömig regelmäßig weit vorne. Fünf oder sogar sechs Stimmen, die sie in die Waagschale werfen konnten, hatten andere Bürger zu keiner Zeit. Auch die ersten zweigeschossigen Wohnhäuser, die um diese Zeit in Güntersleben entstanden, wurden überwiegend von „Wirtli“ gebaut, wie die Nachkommen des Hirschenwirts Valentin Schömig im dörflichen Sprachgebrauch teilweise auch heute noch genannt werden.

Dass man allein mit dem Betrieb einer Dorfwirtschaft – zumal in den von Krieg und Not geprägten Zeiten um und nach 1800 – so schnell zu solch außerordentlichem Wohlstand gelangen konnte, mochten offenbar nicht alle Dorfbewohner glauben. Ob daraus die Geschichte mit der vergessenen Kriegskasse entstanden ist oder ob sie sich tatsächlich so zugetragen hat? Mit Berthold Brecht kann man nur sagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

05/2025