Den Ratz auf die Eier gesetzt
Um die Weihnachtszeit des Jahres 1866 erhielt die Gemeinde Güntersleben Post aus Bremerhaven. Der Absender des Schreibens vom 12. Dezember teilte darin mit, dass er sich dann, wenn der Brief ankomme, bereits auf einem Auswandererschiff auf hoher See befinde.
Er war nicht der einzige Günterslebener, der um diese Zeit sein Glück in der Neuen Welt suchte. Und er war auch nicht der Einzige, der sich mit seiner Auswanderung dem Zugriff seiner Gläubiger oder des Staatsanwaltes zu entziehen suchte. Doch anders als sonst erregte dieser Fall großes öffentliches Aufsehen. Handelte es sich doch bei dem Auswanderer um den Kassenverwalter der Gemeinde Güntersleben. Er hatte allen Grund unterzutauchen, nachdem er doch nicht nur seine Ausreise durch den Griff in die Gemeindekasse finanziert hatte.
Erst seit 1935 wird die Gemeindekasse in Güntersleben von einem Angestellten im Rathaus verwaltet. Bis dahin bestellte der Gemeinderat – meist aus seinen Reihen – dafür einen Kassenverwalter, der diese Aufgabe ehrenamtlich neben seiner Berufstätigkeit wahrnahm und die Kasse in seiner Wohnung verwahrte. Nicht jeder war den Anforderungen gewachsen. Es gab immer wieder Unstimmigkeiten zwischen den Kassenbüchern und den Beträgen, die beim Umkehren der Kasse – daher die Bezeichnung Kassensturz – vorgefunden wurden. Manchmal war privates Geld mit Gemeindegeld vermengt worden oder fällige Abgaben waren nicht eingehoben oder falsch verbucht worden. Was bei der Übergabe der Kasse an einen neuen Verwalter fehlte, musste der bisherige Kassier ersetzen. Damit war auch klar, dass nur besser gestellte Bürger mit diesem Amt betraut wurden, die sich eines untadeligen Leumunds erfreuten.
1865 hatte sich in dieser Hinsicht in Güntersleben einiges an Problemen angestaut. Im Juli des Jahres war der Kassenverwalter Joseph Köhler, damals noch Gemeindepfleger genannt, verstorben. Er war nur eineinhalb Jahre im Amt, hinterließ aber wie schon seine Vorgänger ein ziemliches Chaos in der Kasse, vor allem einen Berg nicht eingehobener und teilweise nicht mehr einzubringender Abgaben, was jeweils jahrelangen Auseinandersetzungen um die Aufklärung der Unstimmigkeiten und Ersatzleistungen zur Folge hatte. Das ging bis dahin, dass die Gemeinde 1871 das Getreide und die Trauben auf den Feldern und in den Weinbergen der Witwe Köhler noch vor der Ernte pfänden ließ, weil bei ihr sonst nichts zu holen war.
Verständlicherweise war unter solchen Umständen nach dem Tod des bisherigen Gemeindepflegers keine große Bereitschaft für dessen Nachfolge zu erkennen. Nur so erklärt es sich, dass man sich für einen 37-jährigen „Neubürger“ namens Mathias Steinmetz entschied, der erst drei Jahre vorher nach Güntersleben gezogen war. Und damit setzte man den Ratz auf die Eier, um ein früher hier gebrauchtes Sprichwort zu zitieren. Ratz oder mundartlich Rootz ist eine andere Bezeichnung für den Iltis, der gemeinhin als Eierdieb gilt. Einem Ratz die Bewachung der Eier anzuvertrauen, ist also so ziemlich die größte Dummheit, die man sich vorstellen kann.
Matthias Steinmetz stammte aus der Gegend von Trier und lebte seit 1853 in Würzburg. 1862 zog er mit seiner Frau nach Güntersleben, wo er die Bäckerei oben an der Langgasse – später Einkaufsmarkt Wolf – kaufen konnte und war hier als Bäcker und Landkrämer tätig.
Als Steinmetz am 15. Juli 1865 in sein Amt als Gemeindepfleger, sprich Kassenverwalter und Herr über die Gemeindefinanzen, eingeführt wurde, sah sich der Gemeindevorsteher, wie der Bürgermeister damals noch hieß, im Hinblick auf die leidigen Erfahrungen mit dessen Vorgängern zu einer eingehenden Belehrung über die Sorgfaltspflichten bei der Kassenführung veranlasst. Die Wertpapiere der Gemeinde nahm er vorsorglich „in einer eisernen tragbaren Kiste“ mit zu sich in seine Wohnung, weil in der Bäckerei, „wo zweimal täglich der Backofen beheizt wird, Brandgefahr zu befürchten ist.“ Damit glaubte er für einen geordneten Geschäftsgang alle notwendige Vorsorge getroffen zu haben.
Dass bei den regelmäßigen Kontrollen seines Bäckereiladens wiederholt festgestellt wurde, dass Steinmetz es mit dem Gewicht des Brotes, das er zum Verkauf anbot, nicht so genau nahm, weckte offenbar kein Misstrauen in seine Amtsführung als Gemeindepfleger. Ebenso wenig, dass er während des Krieges von 1866 vorübergehend in Untersuchungshaft kam, weil man ihn wegen seiner Herkunft aus dem damals noch preußischen Trier und wegen einer unvorsichtigen Äußerung als preußischen Spion verdächtigte. Die Prüfungen der Gemeindekasse gaben zu keinen größeren Beanstandungen Anlass, allenfalls mit der Eintreibung der rückständigen Abgaben bei den steuerpflichtigen Bürgern kam Steinmetz auch nicht so recht voran.
Dann aber kann man im Sitzungsprotokoll der Gemeindeverwaltung – nach heutigem Sprachgebrauch des Gemeinderats – vom 28. November 1866 lesen: „Da sich hierorts die Sage verbreitete, daß sich Gemeindepfleger Steinmetz seit Mittwoch von hier entfernte und bis heute nicht wieder zurückkam, so glaubt man, daß seine Entfernung eine absichtliche ist. Man begab sich in die Wohnung desselben und nahm Rücksprache mit seiner Ehefrau, welche sich äußerte, daß sie vorläufig über die Entfernung garnichts aussprechen könne, ob er sich absichtlich entfernte, oder ob er etwa irgendwo Getreideeinkäufe abschließe.“ Später gab die Ehefrau, mit der Steinmetz „ständig in Dissidien“ lebte, also Streitereien hatte, zu Protokoll, sie habe ihren Mann am Abend des 27. November seine Kleider zusammenpacken gesehen. Am nächsten Morgen sei er mit seinem Gesellen nach Würzburg gefahren. Dort habe er diesem sein Fuhrwerk zur Heimfahrt übergeben und sei verschwunden.
Am 8. Dezember 1866 wurde Steinmetz steckbrieflich zur Fahndung ausgeschrieben und am 31. Dezember sein gesamtes Vermögen gerichtlich beschlagnahmt. In seinem Brief vom 12. Dezember aus Bremerhaven hatte er noch von 400 Gulden gesprochen, die er aus der Gemeindekasse entwendet habe, und seinem Eingeständnis noch forsch hinzugefügt, nachdem er höheren Orts keine Verzeihung zu erhoffen habe, bitte er seine Mitbürger wegen des Fehlbetrags in der Kasse auch nicht um Verzeihung. Nachdem man alles genau überprüft hatte, stellte sich heraus, dass in der Kasse tatsächlich 2356 Gulden fehlten. Ein Gulden hatte damals die Kaufkraft von heute etwa 20 Euro. Nach heutigem Wert hatte Steinmetz also annähernd 50.000 Euro veruntreut.
Da er auch noch bei anderen Gläubigern in der Kreide stand, wohl auch noch Schulden aus dem Kauf der Bäckerei hatte, wurde in der Folgezeit nach und nach das gesamte Vermögen der Eheleute versteigert. Wie damals üblich, wurde dabei auf die Belange der Ehefrau keine Rücksicht genommen. Bei einem ersten Termin im März 1867 standen in der Wohnung von Theresia Steinmetz zur Versteigerung: vier Betten, vier Kommoden, ein Wagen, vier Weinfässer, ein Mutterschwein und eine Kuh. Die Frau führte zwar auch danach den Laden noch weiter, Brot und Backwaren verkaufte sie aber offenbar keine mehr. Denn in den Niederschriften über Lebensmittelkontrollen im August und November 1867 heißt es: „Bei der Bäckerin Theresia Steinmetz konnte nichts gewogen werden, weil keine Gebäcke vorhanden waren“ oder „Bei Theresia Steinmetz fanden sich weder Wecke noch schwarzes Brod vor.“ Im April 1868 kam dann offenbar alles unter den Hammer. In den amtlichen Nachrichten der Zeitungen wurde angekündigt: Versteigerung des Restvermögens der Bäckerseheleute Matthias und Theresia Steinmetz, als da sind das Wohn- und Backhaus Hausnummer 110, vier Tagwerk Äcker und Weinberge in Güntersleben, Thüngersheim und Rimpar, außerdem Hausgerätschaften verschiedener Art, nochmals Betten, Kommoden, Schränke, eine Krämereieinrichtung und einige Krämerwaren. Für die Grundstücke, für die kein annehmbares Gebot abgegeben wurde, gab es einen Monat später einen weiteren Versteigerungstermin, bei dem der Zuschlag ohne Rücksicht auf die Höhe der Gebote erfolgte. Außerdem wurden anschließend noch eine „zur Masse gehörige Uhr und ein Kanapee gegen Barzahlung“ verstrichen.
Von Theresia Steinmetz gibt es aus der Zeit danach keine Nachrichten mehr. Sie hat wohl Güntersleben verlassen. Matthias Steinmetz wurde im September 1868 vom Schwurgericht Würzburg in Abwesenheit zu 8 Jahren Zuchthaus wegen Amtsunterschlagung verurteilt. Abgesessen hat er davon keinen Tag. Man hat nie mehr etwas von ihm gehört.
Bei der gerichtlichen Verteilung der Versteigerungserlöse musste sich die Gemeinde mit 2000 Gulden zufriedengeben. Den darüber hinaus gehenden Fehlbetrag musste sie abschreiben. Bis sie die hohen Außenstände an nicht gezahlten Abgaben bereinigt und ihren Haushalt wieder in Ordnung gebracht hatte, dauerte es noch Jahre, sehr zum Missfallen ihrer Aufsichtsbehörde. Von der, dem königlichen Bezirksamte Würzburg, musste sie sich nach der Vorlage der Jahresrechnung für 1867 ins Stammbuch schreiben lassen: „Die anliegende Rechnung gibt ein trauriges Bild von der Art und Weise, wie in Güntersleben das Gemeindevermögen verwaltet worden ist. Die Aktivaußenstände mehrten sich von Jahr zu Jahr, während die Gemeinde gezwungen wird, zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse verzinsliche Vorschüsse aufzunehmen. Es wird an die Gemeindeverwaltung die ernste Mahnung gerichtet, endlich einmal Ordnung in ihren Haushalt zu bringen, die Tätigkeit des Pflegers genau zu überwachen und bei etwa zur Entdeckung kommenden Unregelmäßigkeiten oder Lässigkeiten in Beitreibung der gemeindlichen Gefälle sofort Anzeige anher zu erstatten, damit hierorts sofort die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden können.“
01/2025