Die mühsamen Anfänge der Sportbewegung in Güntersleben
Politisch verdächtig und moralisch suspekt.
Friedrich Ludwig Jahn, der als Turnvater in die Geschichte eingegangen ist, richtete 1811 auf der Berliner Hasenheide den ersten öffentlichen Turnplatz ein. Von Berlin aus verbreitete sich die Turnerbewegung in Deutschland. 1846 wurde in Lohr der erste Turnverein in Unterfranken gegründet, 1848 entstand die Turngemeinde Würzburg.
Vereine wurden als neuartige Organisationsform argwöhnisch von der staatlichen Obrigkeit beobachtet. Die bekannte Losung „frisch – fromm – fröhlich – frei“ klingt für uns heute viel harmloser, als sie damals wahrgenommen und auch gemeint war. Spätestens als sich die Turner in den 1840er Jahren mancherorts mit den Freiheitsbewegungen verbündeten, sah man die Vereine als Tarnorganisationen von Demokraten und Patrioten und damit als Gefahr für die autoritär ausgerichtete Staatsführung. So wurde auch die TG Würzburg 1853 vorübergehend verboten, weil „sie destruktive Tendenzen verfolge, welche den gesetzlichen Grundlagen des Staates entlegen sind.“
Den weiteren Siegeszug des Turnens, damals auch Leichtathletik, Schwimmen und Wandern umfassend, konnten diese staatlichen Restriktionen nicht aufhalten. Der Vereinsgedanke fand immer mehr Anhänger. 1862 gab es schon 34 Turnvereine in Unterfranken. Turnen wurde Teil der Schulausbildung.
In Güntersleben können wir diese Entwicklung – mit einer zeitlichen Verzögerung von ein paar Jahrzehnten – auch nachvollziehen.
Turnen in der Schule
1874 lesen wir im Jahresbericht der Schule: „Schulturnen wurde wegen Mangel an Zeit nicht betrieben.“ Gemeint war nicht, dass der andere Unterrichtsstoff zu umfangreich war, sondern dass die Kinder zu Hause auf dem Hof und auf dem Feld gebraucht wurden. Erst fünf Jahre später wird 1879 berichtet, dass jetzt wöchentlich zwei Stunden Schulturnen stattfanden – aber nur in den höheren Klassen.
In den unteren Klassen dauerte es noch. 1885, also weitere 6 Jahre später, hatten diese dann auch Turnunterricht. Im Sommer eine halbe Stunde und im Winter eine viertel Stunde die Woche. Nachdem man damals noch keine Turnkleidung kannte, ging wenigstens nicht auch noch ein Teil dieser kargen Minuten für das Umziehen verloren.
1891 hielt der Distriktsschulinspektor (Vorgänger unseres Schulrats) in seinem Visitationsbericht über die unteren Schulklassen fest, dass er „die angeordnete Turnlehrprobe bald wieder abbrechen ließ, da nur ganz elementare Anfangsübungen vorgeführt wurden und da aus den widersprechenden Angaben der Lehrer geschlossen werden mußte, daß während des Sommersemesters gar nicht oder nur sehr wenig geturnt wurde. Die Turnstäbe stehen verrostet in einem Winkel eines Schulzimmers.“
Nach den Berichten der folgenden Jahre wurde der Turnunterricht weiter recht stiefmütterlich behandelt. Eine halbe Stunde in der Woche für die Großen wie für die Kleinen, mehr war nicht drin. Einen Sportplatz gab es nicht. Geturnt wurde auf dem Kirchplatz, damals noch der Schulhof. Im Winter durfte die Schule zum Turnen im Rathaus (heute Altes Rathaus) „ein kleines Zimmer“ nutzen. Vielleicht musste auch deshalb schon nach einer halben Stunde Schluss sein, weil sonst die Kinder womöglich erstickt wären.
Eigentlich hätte der Pfarrer, der als Lokalschulinspektor die Aufsicht über die Schule führte, für einen ordentlichen Turnunterricht sorgen müssen. Doch von dem war nichts zu erwarten. 1897 beteuerte er in einem Schreiben an seine vorgesetzte Dienststelle zwar, dass er gegen die Aufnahme des Turnunterrichts in den Stundenplan „durchaus nichts einzuwenden“ habe. Im gleichen Schreiben beanstandete er aber, dass der junge Lehrer Herbig, mit dem er ohnehin ständig im Clinch lag, den Stundenplan bereits abänderte und den Turnunterricht ansetzte, wogegen er „Verwahrung einlegen“ müsse. Turnen fand damals selbstverständlich getrennt nach Geschlechtern, also immer nur für einen Teil der Kinder statt. Dass sich die anderen während dieser Zeit ohne Aufsicht im Klassenzimmer aufhielten, wollte der Pfarrer „aus Gründen der sittlichen Zucht“ nicht dulden.
Das hatte zur Folge, dass das Turnen jetzt außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit stattfinden musste. Wenn die einen Kinder – Mädchen oder Jungen – schon nach Hause durften, kann man sich gut vorstellen, mit welcher Begeisterung die anderen noch die Turnübungen absolvierten. Ganz zu schweigen von den Eltern, von denen die wenigsten Verständnis dafür aufbrachten, dass ihre Kinder auf diese Weise von der häuslichen Arbeit abgehalten wurden.
Der vom Pfarrer gerüffelte junge Lehrer wollte das aber nicht auf sich beruhen lassen und schrieb an die Schulbehörde: Er müsse sich „wundern, warum der Herr Lokalschulinspektor sich gerade jetzt des Turnens so tatkräftig annimmt“, wo er bisher noch nie danach gefragt und außerdem einen Praktikanten zur Rede gestellt habe, weil der während der Unterrichtszeit Turnunterricht erteilt habe. Zudem habe der Herr Pfarrer Schüler, die den Übungen des neu gegründeten Turnvereins zusahen, „eigenhändig körperlich gezüchtigt“. Ob denn auf solche Weise Freude am Turnen geweckt werde?
Die Vorhaltungen des Lehrers waren offenbar zutreffend, denn sie blieben unwidersprochen. Aber er erhielt von der Schulbehörde einen Verweis „wegen ungeziemender Schreibweise und wegen Nichtbeachtung seiner dienstlichen Stellung gegenüber der Lokalschulinspektion“.
Der Turnverein
Die Turnbewegung war indessen auch außerhalb der Schule in Güntersleben angekommen. Zum Missfallen nicht nur des Pfarrers, sondern auch der konservativen Dorfobrigkeit.
1893 richteten einige junge Männer einen ersten Turnplatz ein. Ausgerechnet gegenüber der Schule – dem jetzigen Kolpinghaus – an der Weinbergstraße. Es mag Zufall gewesen sein, weil dort eben ein Grundstück zu bekommen war. Tatsächlich musste schon die Wahl dieses Standortes als Provokation wirken, mit entsprechenden Reaktionen des Pfarrers, wie dargestellt.
Die jungen Männer in Güntersleben machten dann allerdings den gleichen Fehler, den 50 Jahre vorher die Turner bei der Gründung der ersten Vereine in Deutschland machten. Sie verbündeten sich mit den Kräften, die die hergebrachte Ordnung im Dorf aus den Angeln heben wollten. Und das konnte nicht gutgehen.
Die missglückte Fahnenweihe
1896 oder etwas später kam es zu einem Vorfall, von dem nur feststeht, dass es ihn tatsächlich gab. Die Version, die man in Sportlerkreisen erzählte, lautet so: Der Verein hatte sich eine Fahne gekauft. Die sollte eine Woche nach dem Sonntag geweiht werden, an dem herkömmlich die Wallfahrt nach Retzbach stattfand. Man wird wohl davon ausgehen können, dass das mit dem Pfarrer abgesprochen war, denn wer hätte sonst die Fahne weihen sollen. Wegen schlechten Wetters wurde dann aber die Wallfahrt um eine Woche auf den Sonntag verschoben, an dem die Fahnenweihe geplant war. Noch während die Wallfahrer unterwegs waren, machte sich eine Abordnung des Vereins, ebenfalls mit Musik, auf den Weg, um eine Delegation von Würzburger Turnern in Empfang zu nehmen. Dabei sei man unglücklicherweise den Wallfahrern begegnet, die aus Retzbach zurückkehrten. So die Darstellung nach einer späteren mündlichen Schilderung von jemand, der zum Zeitpunkt des Geschehens noch keine zehn Jahre alt war. Wie manches andere passt daran nicht so recht zusammen, wo man sich auf dem Weg nach Würzburg und dem nach Retzbach eigentlich in die Quere kommen soll.
Vom Pfarrer, dem die geplante Fahnenweihe ohnehin nicht behagte, gibt es immerhin schriftliche Aufzeichnungen. Ohne konkret den Turnverein zu nennen, schreibt er, dass an einem Bitttag, an dem wie seit jeher eine kirchliche Prozession stattfand, vom Gasthaus Schönbrunnen ein wilder Umzug ausging. Den geißelte er von der Kanzel mit den Worten, dass damit „die religiöse Überzeugung mit Füßen getreten und zum Gegenstand des Spottes gemacht“ werde. Ob er damit den gleichen Vorgang meinte, bleibt allerdings offen.
Wie dem auch war, der Verein war am Ende, noch bevor er recht entstanden war. Auf dem Turnplatz brauchte sich keiner mehr sehen lassen. Die Fahne wurde verkauft, ehe sie in Dienst genommen war. Die Turner der 1890er Jahre hatten die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Dorf völlig falsch eingeschätzt. Sie haben sich mit ihrem Aufbegehren gegen die bürgerliche Ordnung im Dorf übernommen. Unter den damaligen Gegebenheiten konnten sie diese Auseinandersetzung nicht gewinnen.
Die Turngemeinde von 1905
Aus Schaden wird man bekanntlich klug. Die Fehler ihrer Vorgänger beim ersten gescheiterten Versuch einer Vereinsgründung wollten die jungen Männer, die 10 Jahre später einen neuen Anlauf machten, nicht wiederholen.
Sorgfältig darauf bedacht, jeden Anschein einer politischen Zielsetzung zu vermeiden, nahmen sie im Vorfeld Verbindung auf mit den bereits etablierten Turnvereinen in den Nachbargemeinden Veitshöchheim, Margetshöchheim, Zell und Unterdürrbach, um möglichst keine Fehler zu machen. Als dann am 20. Juni 1905 die Turngemeinde Güntersleben gegründet wurde, stand in der Satzung als Vereinsziel „die körperliche und geistige Ausbildung junger Leute durch Turnübungen, Gesang und Vorträge.“ Weiter war bestimmt, dass die Mitglieder einen unbescholtenen Ruf und einen tadellosen Lebenswandel haben mussten. Hohe Ansprüche, die Ängste und Vorbehalte im Dorf ausräumen sollten.
Wohl nicht nur aus Geldmangel verzichtete man zunächst auch auf eine Vereinsfahne. Der von vielen als ungeheuerlich empfundene Vorgang aus der Vergangenheit war noch zu gut in Erinnerung. Zudem hatten Vereinsfahnen damals noch eine viel größere Symbolkraft als heute. Die Fahne wurde getragen als Demonstration von Unabhängigkeit und Freiheit und hätte daher leicht als neuerliche Provokation verstanden werden können. So dauerte es bis 1923, ehe die Turngemeinde sich auch eine Fahne zulegte.
Aus der Turngemeinde von 1905, die sich im Dritten Reich wie andere Vereine auch auflösen musste, ging mit der Neugründung 1947 der Turn- und Sportverein hervor.
04/2024