Evakuierte, Flüchtlinge, Vertriebene im Zweiten Weltkrieg

23. Mai 2022

Evakuierte, Flüchtlinge, Vertriebene im Zweiten Weltkrieg

Als Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselte, zählte Güntersleben knapp 1500 Einwohner. Nach fast sechs Jahren Krieg mit 91 gefallenen Soldaten, sechs Kriegstoten unter der einheimischen Bevölkerung im Dorf und rückläufigen Geburtenzahlen war die Einwohnerzahl von Güntersleben gleichwohl bis 1946 auf fast 2000 gestiegen. Wie kam es dazu?

Über 600 Menschen, die durch den Krieg ihren Heimatort verlassen mussten und nach Güntersleben kamen, um hier vorübergehend, für längere Zeit oder auf Dauer Aufenthalt zu finden, hatten zu diesem Einwohnerzuwachs geführt. Sie alle in den 270 Wohnhäusern unterzubringen, die um einiges kleiner als die heutigen und schon vor dem Krieg dicht belegt waren, bedeutete für die Gemeinde eine bis dahin und auch bis heute nicht mehr erlebte Herausforderung. Schließlich war während des Krieges auch in Güntersleben der Häuser- und Wohnungsbau komplett zum Erliegen gekommen.

„Rückwanderer“ aus dem Saarland

In Erwartung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich war schon etwa zeitgleich mit dem Einmarsch nach Polen die Räumung der westlichen Grenzgebiete des Reiches angeordnet worden. Von den 600.000 Menschen, die allein im Saargebiet ihre Wohnungen verlassen mussten, kamen im September und Oktober 1939 auch fünf Familien, zum Teil mit Kleinkindern, und mehrere Alleinstehende, insgesamt 22 Personen, in Güntersleben an. Im Amtsdeutsch fälschlicherweise als Flüchtlinge oder beschönigend als Rückwanderer bezeichnet, lebten sie die nächsten Monate in privat zur Verfügung gestellten Unterkünften. Nach den Anfangserfolgen der deutschen Wehrmacht gegen Frankreich konnten sie im Sommer 1940 wieder in ihre Heimat zurück.

Kinderlandverschickung

Zu Beginn des Jahres 1941 wurden bei der „Kinderlandverschickung aus luftgefährdeten Gebieten“ 27 Kinder aus Düsseldorf, Krefeld und Essen nach Güntersleben zugewiesen. Die 19 Mädchen und 7 Jungen im Alter zwischen 6 und 14 Jahren wurden bei einzelnen Familien untergebracht und besuchten währenddessen hier auch die Schule. Sie blieben meist mehrere Monate, viele kamen nach kurzem Heimatbesuch – solange das möglich war – immer wieder. Einer und auch der Einzige, der auf Dauer blieb, war Kurt Lukas aus Essen-Kettwig, der nach dem Krieg in Güntersleben heiratete und hier ansässig wurde.

Nach der Ausweitung der englischen Luftangriffe auf das Rheinland und das Ruhrgebiet wurden dann mit den Kindern auch deren Familien in Sicherheit gebracht und mit Sonderzügen in das noch sichere Landesinnere befördert. Unter dem Betreff „Erweiterte Kinderlandverschickung zur Unterbringung total bombengeschädigter Volksgenossen“ wurde dem Bürgermeister mit Schreiben vom 29. Juni 1943 angekündigt, dass Güntersleben mit der Zuweisung von 35 Müttern mit einem oder zwei Kindern, 40 weiteren Kindern und 10 älteren Leuten zu rechnen habe, wenn der Sonderzug in den nächsten Tagen eintreffe. Wenig später meldete die Gemeinde zum Stand 17. Juli 1943 die Anwesenheit von 132 Personen, die wiederum vornehmlich aus Düsseldorf, Krefeld und anderen Städten in deren Nähe stammten.

Flucht vor dem näher rückenden Krieg

Dabei blieb es aber nicht. Bis zum Ende des Krieges und verstärkt seit Ende 1944 kamen beinahe ständig weitere Schutzsuchende, nicht mehr allein aus dem Rheinland, hinzu. Manche von ihnen blieben nur kurze Zeit, um dann weiterzureisen zu Bekannten oder Verwandten, bei denen sie unterkamen. Genaue Zahlen gibt es aus diesen Monaten nicht. Die Anzahl der Aufgenommenen dürfte sich aber Anfang März 1945, noch vor dem großen Zustrom nach der Zerstörung Würzburgs, schon auf 200 zubewegt haben.

Nach der Zerstörung Würzburgs

Am 16. März 1945 wurde Würzburg durch englische Luftangriffe zerstört. Die obdachlos gewordenen Einwohner, die dem Inferno entrinnen konnten, flüchteten in ihrer Not in die Dörfer der Umgebung. Mehr als 350 von ihnen suchten und fanden für eine damals nicht absehbare Zeit eine Bleibe in Güntersleben. Am Morgen nach der Brandnacht wurden die Kleinkinder der Universitätsklinik des Luitpoldkrankenhauses auf Pferdefuhrwerken nach Güntersleben befördert; für das folgende halbe Jahr waren, wie in einem Notfallplan vorgesehen, die Hirschenwirtschaft, der Schulsaal in der Kinderbewahranstalt an der Langgasse und das heutige Kolpinghaus am Kirchplatz, damals noch Schule, provisorisch hergerichtete Kinderkliniken.

Gegen Ende des Kriegs trafen die ersten Vertriebenen und Flüchtlinge ein, deren Anzahl in den Nachkriegswochen auf über 150 steigen sollte. Die allermeisten von ihnen kamen aus dem Sudetenland, einige wenige auch aus Schlesien, Ostpreußen und anderen ehemals deutschen Gebieten.

Eine genauere zahlenmäßige Aufstellung liegt erst wieder aus dem Dezember 1945 vor. Danach belief sich die Zahl aller heimatlos gewordenen Menschen, die in Güntersleben zu diesem Zeitpunkt untergebracht waren, auf mehr als 630 Personen jeden Alters. Da war die Kinderklinik schon wieder nach Würzburg zurückverlegt.

Zusammenleben auf engstem Raum und schwierige Versorgungslage

Soweit die Erinnerungen von Zeitzeugen verlässlich sind, war die Bereitschaft bei den Einheimischen groß, in ihren Wohnungen zusammenzurücken und irgendwie entbehrliche Räume in ihren Häusern für die Unterbringung freizugeben. Rein rechnerisch kommt man – bei allen Unterschieden im Einzelfall – auf durchschnittlich 7 bis 8 Personen, die danach in einem Haus lebten. Um zu ermessen, was das bedeutete, sollte man sich im Vergleich dazu vor Augen halten, dass heute unsere sehr viel größeren Häuser in Güntersleben im Durchschnitt gerade einmal halb so viele Bewohner haben.

Es sind nur wenige Einzelfälle dokumentiert, dass sich Wohnungseigentümer weigerten oder gezwungen werden mussten, freie Räume zur Verfügung zu stellen. Auch andere Vorkommnisse, wie unangemessene Behandlung oder Schikanierung von Zugewiesenen, gab es anscheinend nicht so oft. Wie nach aller Lebenserfahrung nicht anders zu erwarten, haben sich freilich auch nicht alle Aufgenommenen immer vorbildlich oder genau so verhalten, wie es ihre Wohnungsgeber erwarteten. Dem einen oder der anderen mag es auch schwergefallen sein, sich vom Stadtleben an die Verhältnisse auf dem Land, zumal unter den damaligen Bedingungen, zu gewöhnen.

Die neuen Dorfbewohner mussten nicht nur untergebracht, sondern auch mit allem weiteren, was sie zum Leben brauchten, versorgt werden. Wohl bekamen auch sie Lebensmittelkarten und Bezugsscheine auf die Dinge des täglichen Bedarfs. Doch was damit zugewiesen wurde, reichte – sofern man es überhaupt bekam – vielfach kaum zum Überleben. Zwar lebte man in Notzeiten wie damals auf dem Land immer noch besser als in der Stadt. Doch die weit reichenden Ablieferungspflichten beschränkten auch die Möglichkeiten der Bauern, von dem abzugeben, was sie auf ihren Höfen und Feldern produzierten.

Selbst in einer so waldreichen Gemeinde wie Güntersleben wurde das Holz knapp, um im Winter die Wohnungen zu heizen. Am 4. Februar 1946 sah sich der Gemeinderat zu einem Beschluss veranlasst, wonach „von sämtlichen Haushaltungen jede verfügbare männliche Arbeitskraft zum Holzfällen abzustellen ist, damit der große Brennholzbedarf gedeckt werden kann.“ Der Bedarf war angesichts der vielen zusätzlichen Hausbewohner größer als je zuvor und es fehlten die arbeitsfähigen Männer, die im Krieg geblieben oder noch in Gefangenschaft waren.

Viele Schulkinder, wenige Lehrer, fehlende Klassenzimmer

Auch die Schule stand erst einmal vor kaum lösbaren Problemen. Nach einem halben Jahr Pause konnte am 22. Oktober 1945 zwar wieder mit dem Unterricht begonnen werden – aber nur für die unteren vier Jahrgänge. Für die höheren Jahrgänge fehlten die Lehrer und die Schulsäle. Lehrer Ludwig Mainka, selbst Flüchtling aus Oberschlesien, und eine Kollegin hatten jeweils zwei Klassen mit 103 bzw. 118 Schulkindern zu unterrichten. Der volle Schulbetrieb für alle acht Jahrgangsstufen konnte erst ab Mai 1946 wieder aufgenommen werden. In den gleichen Klassenzimmern, die vor dem Krieg für 240 Plätze ausgelegt waren, erteilten jetzt vier Lehrer für 380, mit Beginn des nachfolgenden Schuljahrs sogar für 394 Kinder den Unterricht. Möglich war das nur mit sogenanntem Wechselunterricht, bei dem vormittags die eine Hälfte und nachmittags die andere Hälfte der Klassen an der Reihe war. Erst mit dem Schuljahr zum September 1949 entspannte sich die Situation mit weniger Schulkindern und mehr Lehrkräften, bevor 1951 mit dann noch 269 Kindern in ein neues Schulhaus umgezogen werden konnte.

Auf dem Weg in die Normalität

Die beengte Wohnungssituation entspannte sich erst allmählich wieder, als die ersten Evakuierten in ihre Herkunftsorte zurückkehren konnten und auch ein Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen anderswo unterkam. Doch das dauerte. Fünf Jahre nach Kriegsende wohnten in Güntersleben noch etwa 220 Evakuierte und 90 Flüchtlinge und Vertriebene, zusammen noch immer über 300 Personen, die durch die Kriegsereignisse in das Dorf gekommen waren. 170 waren es 1956 immer noch, von denen die meisten aber auch nicht mehr beabsichtigten, aus Güntersleben wegzuziehen. Es dürften wohl über 100 Personen sein, die auf Dauer an dem Ort sesshaft blieben, den sie sich nicht freiwillig ausgesucht, sondern in höchster Not als Rettungshafen gefunden hatten. Und dass gar nicht so wenige dann auch ihr persönliches Glück in einer Heirat mit einem Günterslebener oder einer Günterslebenerin hier fanden, gab dem Leben dann noch einmal eine ganz neue Wende.

An Wohnungen mangelte es schließlich auch nicht mehr, seit 1948 die ersten Neubauten entstanden und bis 1952 mehr als 60 neue Wohnhäuser bezogen werden konnten.

05/2022