15 Billionen Mark Rente im Monat

30. Januar 2023

15 Billionen Mark Rente im Monat

Nachdem der Günterslebener Waldhüter Michael Beetz in den Ruhestand getreten war, setzte der Versorgungsverband dessen monatliche Bezüge auf 15 Billionen Mark fest. Darüber könnten sogar die mit üppigen Altersversorgungen wohlausgestatteten Vorstände unserer Dax-Unternehmen vor Neid erblassen – hätte sich der Rentenbescheid nicht am Geldwert von November 1923 orientiert.

Das Inflationsjahr 1923

Vor 100 Jahren erlebte Deutschland eine Geldentwertung, wie es sie in diesem Ausmaß und mit derart existenzvernichtenden Folgen für viele Betroffene in den Industriestaaten der neueren Zeit kein zweites Mal gab. Für viele, die sie miterleben und erleiden mussten, blieb sie ein lebenslanges Trauma. Die Angst um den Bestand ihrer Ersparnisse und das Misstrauen gegen jegliche Formen der Geldanlage ließen sie nicht mehr los.

Auslöser der Geldentwertung war der Erste Weltkrieg, der das Deutsche Reich neben allen anderen Lasten für das Land und die Bevölkerung Unsummen von Geld kostete, das der Staat nicht hatte. Der Krieg wurde daher nahezu vollständig mit Krediten und Kriegsanleihen finanziert, zu deren Zeichnung die Bevölkerung immer wieder aufgerufen wurde.

Nach dem Ende des Krieges musste der Staat diese Kredite zurückzahlen. Dazu kamen die erdrückenden Wiedergutmachungsleistungen, die Deutschland durch die Siegermächte im Versailler Vertrag auferlegt wurden. Um ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, brachte die Regierung immer mehr Geld in Umlauf, das immer weniger durch materielle Werte gedeckt war und damit beständig an Kaufkraft verlor. Je schneller die Notenpressen Geldscheine mit immer höherem Nennwert druckten, desto weniger bekam man dafür. Löhne und Preise stiegen unaufhaltsam, bis sie im Laufe des Jahres 1923 geradezu explodierten und der Heizwert der Geldbündel am Ende höher war als ihr Zahlungswert.

Nutznießer der Inflation waren der Staat und alle, die auch Schulden angehäuft hatten. Bei gleichbleibendem Nennwert fiel die Tilgung immer leichter. Auch als Besitzer von Immobilien und anderen Sachanlagen kam man gut durch die Inflation. Verlierer waren alle, die Geld gespart hatten, das am Ende so gut wie wertlos war, und diejenigen, die vom Lohn ihrer Arbeit lebten, den man am Ende gar nicht so schnell ausgeben konnte, wie sein Wert verfiel.

Die Wende brachte die Einführung der Rentenmark im November 1923. Das neue Zahlungsmittel war durch Immobilien und andere Sachwerte von Großgrundbesitzern und Industriellen gedeckt. Es wurde nur so viel davon gedruckt, wie durch diese Sachwerte gedeckt war. Wer jetzt wertbeständiges Geld zum Investieren oder für Lohnzahlungen brauchte, konnte sich damit gegen übliche Zinsen versorgen. Wer Arbeit hatte, bekam wieder Geld in die Lohntüte, mit dem er etwas anfangen konnte. Bis es so weit war, blieb aber manchen auch nichts anderes übrig, als die Leere im Geldbeutel erst einmal dadurch zu bekämpfen, dass sie mehr oder auch weniger Entbehrliches veräußerten. So kam allmählich wieder ein kontrollierter Zahlungsverkehr in Gang. Altes Geld konnte man sogar noch umtauschen, machte damit aber ein denkbar schlechtes Geschäft. Für eine Billion alter Papiermark gab es eine Rentenmark. Einfach war nur die Rechnung: Man musste lediglich 12 Nullen streichen und wusste, was man durch den radikalen Schnitt nach dem Zusammenbruch der alten Währung noch hatte. Zur Jahresmitte 1924 wurde die Rentenmark durch die Goldmark abgelöst. Damit war das Gespenst der Inflation, die zu Recht unter dem Namen Hyperinflation in die Geschichtsbücher einging, endgültig verscheucht. An den Folgen hatten aber viele noch lange zu tragen.

Güntersleben 1923

1300 Einwohner, 300 Haushalte, 230 Anwesen. Das war Güntersleben in den beginnenden 1920er Jahren. Jedes dritte Anwesen war ein Bauernhof. Auch die Besitzer der anderen Wohnhäuser – Handwerker und Händler, Beschäftigte im Baugewerbe, bei der Bahn, in der Fabrik, im Wald oder in den Weingütern – betrieben in aller Regel im Nebenerwerb eine kleine Landwirtschaft und hielten Nutztiere für den Eigenbedarf auf ihren Höfen. Es waren nicht sehr viele Familien, die ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Verdienst aus einem Beschäftigungsverhältnis bestritten.

Wohl hatten der Krieg und seine Folgen auch die Menschen in Güntersleben schwer getroffen. 60 Männer waren von den Fronten nicht mehr zurückgekommen und fehlten in ihren Familien. Abgabepflichten und Lebensmittelrationierungen galten auch noch über das Kriegsende hinaus. Gleichwohl schienen sich die Verhältnisse im Dorf erstaunlich schnell zu normalisieren. Im Februar 1920 stellte der Gemeinderat fest, „dass zur Fortführung der Erwerbslosenfürsorge kein Bedürfnis besteht. Sogenannte Saisonarbeiter wie Maurer und Tüncher können im Winter im Walde beschäftigt werden.“ Und einem weiteren Beschluss vom November 1921 kann man entnehmen, „dass der Wohnungsmangel durch die bisherigen 6 Neubauten behoben“ sei. Einen großen Schritt zu mehr Lebensqualität bedeutete es sicher auch, dass die Gemeinde „und ihre Eingesessenen“, wie es im entsprechenden Vertrag heißt, seit Mitte 1921 mit elektrischem Strom versorgt wurden.

Politisch hatte sich nach den unruhigen Nachkriegsjahren auch in Güntersleben die Lage wieder beruhigt. Zwar mussten sich alle Seiten erst daran gewöhnen, dass im Gemeinderat seit 1919 unterschiedliche politische Parteien vertreten waren. Die Zusammenarbeit gestaltete sich aber im Allgemeinen ziemlich reibungslos. Gelegentliche Störversuche kamen meist von außen, durch politische Akteure, die bei der Wahl nicht zum Zug gekommen waren.

Die Auswirkungen der Inflation für Güntersleben

Die Geldentwertung, die noch während des Krieges einsetzte, traf die Menschen im Dorf zwar auch schmerzlich, aber – wie die Landbevölkerung insgesamt – nicht mit der gleichen Wucht wie die Menschen in den Städten.

Das eigene Haus und der Grundbesitz, den die meisten Familien hatten, blieb von einem dauerhaften Wertverlust verschont. Wo man sich noch weitgehend mit Erzeugnissen vom eigenen Hof versorgte, waren zumindest die elementaren Grundbedürfnisse gesichert. Wo dies nicht ausreichend der Fall war, stand man zwar auch vor dem Problem, dass das Tempo der Lohnerhöhungen mit den exorbitant steigenden Preisen für Lebensmittel und anderes oft nicht Schritt hielt. Wenn es ums Überleben ging, konnte man aber im Dorf noch eher auf die Solidarität der Mitbewohner zählen als in den Städten, wo auch die Nachbarn nichts abgeben konnten. Größere Ersparnisse hatten bei der bescheidenen Lebensführung und unter den schwierigen Verhältnissen der vorangehenden Kriegsjahre ohnehin die wenigsten Familien ansammeln können, so dass sich auch da die Verluste in Grenzen hielten. Wer Schulden hatte, und das waren nicht nur die Bauherren der sechs Wohnhausneubauten seit dem Kriegsende, war diese durch den Zerfall der Währung buchstäblich über Nacht los.

Leider gibt es so gut wie keine Aufzeichnungen und auch keine Zeitzeugen mehr, die aus eigenem Erleben schildern könnten, wie ihre Familien durch die Inflationszeit kamen. Immerhin können aber die Sitzungsprotokolle des Gemeinderats und die Gemeinderechnungen dieser Jahre doch einen Eindruck über den Verlauf und die konkreten Auswirkungen der Geldentwertung vor Ort vermitteln.

Bereits im Juni 1918, also noch vor Kriegsende, musste die Gemeinde auf Weisung der Aufsichtsbehörde ihren Bediensteten eine satte Teuerungszulage bewilligen. Die jährlichen Bezüge des Straßenwärters und des Waldhüters wurden von 60 auf 120 Mark verdoppelt, der Polizeidiener erhielt statt bisher 120 Mark sogar 300 Mark und auch der Bürgermeister und der Gemeindeschreiber kamen in den Genuss eines ordentlichen Zuschlags. Weitere Nachbesserungen ließen nicht lange auf sich warten. So war man beim Polizeidiener und beim Waldaufseher schon im September 1919 bei 1.920 Mark Jahreslohn angelangt. Allerdings nur „für die Zeit, bis der allgemeine Weltmarkt bzw. Geldmarkt sich bessert“ – wie sich schnell zeigen sollte, eine vergebliche Hoffnung des Gemeinderats. Denn nur ein dreiviertel Jahr später musste man zur Jahresmitte 1920 die Bezüge erneut fast verdoppeln, auf jetzt 3.360 Mark jährlich.

Die Abstände zwischen den nächsten Gehaltszuschlägen, auch für die weiteren Beschäftigten der Gemeinde wie den Wegmacher oder den Wasserwart, wurden immer kürzer. Im April 1921 kam man nicht umhin, auch der Musikkapelle höhere Beträge für ihre verschiedenen Dienstleistungen zuzugestehen.

Derweil passte die Gemeinde auch die Steuern und Gebühren für ihre Leistungen fortwährend an, wie man das heute gerne beschönigend umschreibt. Die Hundesteuer, im Januar 1922 noch bei 20 Mark, wurde ein Jahr später auf 400 Mark erhöht. Der Pachtpreis für die Gemeindeäcker wurde zur gleichen Zeit auf das fünfzehnfache erhöht. Im Dezember 1922 setzte der Gemeinderat die Vergnügungssteuer für Tanzveranstaltungen auf 1.000 Mark je Tag fest. Der Wasserpreis wurde für das erste Halbjahr 1923 gleich auf das Hundertfache des Betrages angehoben, den man für das ganze Vorjahr zu zahlen hatte.

Um nicht fortwährend neuen Forderungen nach Lohnerhöhungen ausgesetzt zu sein, koppelte der Gemeinderat im Dezember 1922 die Bezüge des Gemeindepersonals an den Brotpreis. Der Tagesverdienst des Polizeidieners sollte fortan dem Preis von einem Laib Brot entsprechen.

Als der Polizeidiener dann im Januar 1923 für den Wachdienst zusätzlich 100 Mark für jede Nacht, die er unterwegs war, forderte, beschloss der Gemeinderat kurzerhand, wie früher wieder alle Bürger im Wechsel zum nächtlichen Wachdienst zu verpflichten. Ein Vorhaben, das man allerdings nach kurzer Zeit wieder aufgab, weil die Bürger keine rechte Lust verspürten und den Dienst nur nachlässig versahen.

Am 14. Oktober 1923 musste man bei den Bäckern in Güntersleben für einen Laib Brot 300 Millionen Mark über den Ladentisch reichen. Da war der Gemeinderat schon längst wieder dazu übergegangen, die Löhne unabhängig vom Brotpreis von Zeit zu Zeit neu festzusetzen. Das letzte Mal geschah das am 22. September 1923, als er den Wochenlohn für den Polizeidiener auf 200 Millionen Mark und für den Gemeindeschreiber auf 120 Millionen Mark anhob. In den Monaten danach mussten die Löhne bei den horrend steigenden Preisen in so kurzer Folge immer wieder angepasst werden, dass keine Zeit blieb, den Gemeinderat erst damit zu befassen. Auf dem Höhepunkt der Inflation im November 1923 holte sich der Polizeidiener im Wochenabstand beim Gemeindekassier seinen Lohn ab: Am 5. November 395 Milliarden Mark, am 10. November 1 Billion 260 Milliarden Mark, am 20. November 1 Billion 890 Milliarden Mark und am 25. November 9 Billionen Mark.

Da hatte es sich der Gemeindekassier längst abgewöhnt, in seinem Kassenbuch zu den einzelnen Beträgen noch alle Nullen anzufügen. Bei der Erstellung der Jahresrechnung blieb ihm aber das nicht erspart. Nach vielen schier endlos erscheinenden Einzelbeträgen bilanzierte er für das Haushaltsjahr die Gesamteinnahmen der Gemeinde mit 9.151.108.139.656.018 Mark und die Gesamtausgaben mit 8.642.512.487.402.453 Mark. Einfacher ausgedrückt sind das über 9 Trillionen Einnahmen und gut 8 ½ Trillionen Ausgaben. Größter Einnahmeposten war auch in diesem verrückten Jahr der Holzverkauf aus dem Gemeindewald, aus dem mehr als 2 Trillionen Mark in die Gemeindekasse flossen.

Nach Einführung der neuen Zahlungsmittel mit der Rentenmark und dann der Goldmark lag das Volumen des Gemeindehaushalts wie vor dem Ersten Weltkrieg wieder bei etwa 40.000 Mark. Der Polizeidiener erhielt ab Januar 1924 einen Monatslohn von 50 Mark und der frühere Waldhüter Michael Beetz ein Ruhegehalt von 15 Mark im Monat.

01/2023