Das Bauerndorf Güntersleben ist Geschichte
Als im Juni 2022 bekannt wurde, dass es mit dem geplanten Naturkindergarten auf dem Gelände eines Bauernhofes wegen der unkalkulierbaren Baukosten nichts werde, war das Bedauern bei vielen Eltern groß. Zu gerne hätten sie ihre Kinder in dieser neuartigen Betreuungseinrichtung am Leben auf einem Bauernhof teilnehmen lassen.
Ein paar Jahrzehnte früher wäre niemand auf den Gedanken gekommen, einen Kindergarten in Verbindung mit einem Bauernhof einzurichten. Kannten die Kinder doch ohnehin die Welt der Bauern, sofern sie nicht selbst auf einem Hof aufwuchsen, aus nächster Nähe. Denn bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war Güntersleben noch von der Landwirtschaft geprägt. Geht man noch weiter zurück in die Vergangenheit, war es sogar ein reines Bauerndorf.
Das Dorf der Bauern
Der Weg zurück führt uns in das Jahr 1698. Aus diesem Jahr stammt das älteste Schatzungsbuch im Gemeindearchiv. Auf den 1200 Seiten des voluminösen Bandes ist das gesamte Vermögen aller Dorfbewohner erfasst, ihr Besitz an Häusern, Grundstücken und Vieh. Gedacht war die Zusammenstellung als Grundlage für die Steuerveranlagung. Für uns heute bildet sie eine einmalige Informationsquelle über die Verhältnisse im Dorf zu dieser Zeit.
Bei annähernd 500 Einwohnern zählte das Dorf 105 Familien. Abgesehen von der Lehrersfamilie waren so gut wie alle Bauern. Wenn auch ein rundes Dutzend Handwerker aufgeführt sind, so übten diese ihr Handwerk als Bäcker, Schneider, Schuster, Wagner oder Büttner durchwegs nur nebenher zu ihrer Landwirtschaft aus.
Neben ihren Hofstellen und deren Bewertung sind gar nicht so wenigen Bauern mehr als 50 oder 100 oder noch mehr Äcker zugeschrieben. Das täuscht einen Wohlstand vor, der tatsächlich bei den meisten so nicht vorhanden war. Die vielen Grundstücke waren in aller Regel kleine oder kleinste Parzellen, die über die ganze weitläufige Flur verstreut lagen. Die Erträge waren bei den überwiegend kargen Böden der hiesigen Flur gering. Zudem blieb bei der noch bis gegen 1900 in Güntersleben vorherrschenden Dreifelderwirtschaft jedes dritte Jahr im Wechsel ein Drittel der Flur unbebaut, also brach liegen, damit der Boden sich erholen konnte und durch die Ausscheidungen der Weidetiere mit Nährstoffen versorgt wurde.
Nur 13 Bauern hatten ein Pferd und nur fünf von diesen zwei Pferde als Zugtiere. Die anderen Bauern mussten mit Ochsen oder Kühen ihre entfernt liegenden Felder anfahren, um diese zu bestellen und die Ernte einzubringen. Es gab auch Bauernfamilien, die nicht einmal diese, sondern nur Ziegen ihr Eigen nannten.
Angebaut wurde auf den Feldern vorwiegend Getreide, vor allem Roggen, dessen Mehl für das Brotbacken gebraucht wurde. Denn Brot war das Hauptnahrungsmittel, bevor nach 1800 der Anbau von Kartoffeln aufkam. Fleisch kam erst häufiger, aber auch dann nicht regelmäßig auf den Tisch, seit um 1850 die Stallviehhaltung eingeführt und damit größere Viehbestände auf den Höfen üblich wurden.
Wie sich im Schatzungsbuch von 1698 weiter nachlesen lässt, hatten nahezu alle Bauern auch Weinberge. Aber auch dabei handelte es sich meist nur um Kleinstparzellen und die Leseerträge waren unvergleichlich geringer als heute. Dazu kam, dass die Traubenerträge noch mehr als die Feldfrüchte jährlichen Schwankungen unterworfen waren. Und Missernten bedeuteten für die Dorfbewohner nicht nur vorübergehende Wohlstandseinbußen, sondern konnten sich zu lebensbedrohenden Nahrungsengpässen und zu Hungersnöten auswachsen, wie sie für die Jahre um 1815 in Güntersleben gut dokumentiert sind.
Immer mehr Familien ohne eigenen Hof
Die Anzahl der Bauernhöfe und der Familien, die von der Landwirtschaft lebten, blieb bis weit in das 20. Jahrhundert mit geringen Schwankungen bei etwa 90 bis um die 100 ziemlich gleich. Daran änderte sich auch nichts, als nach 1800 die Einwohnerzahl stetig zunahm und das Dorf größer wurde. Die Hofstellen waren fast durchwegs zu klein, als dass sie auf mehrere Kinder aufgeteilt werden und diesen dann noch eine hinreichende Existenzgrundlage bieten konnten. Die Kinder von Bauern, die den Hof nicht erbten und auch nicht auf einen anderen Hof einheiraten konnten, mussten sich mit der Überlassung von einigen wenigen Grundstücken zufriedengeben und sich anderweitig ein Auskommen suchen.
Einige schafften dies durch ihre handwerklichen Fähigkeiten, die bei zunehmender Bautätigkeit im Dorf jetzt vermehrt gefragt waren. Für eine stetig wachsende Zahl blieb aber nur ein Dasein als Tagelöhner. Die waren ohne geregelte Beschäftigung und mussten immer wieder schauen, dass sie für kürzere oder längere Zeit bei einem Bauern, im Wald oder in den staatlichen Weingütern eine Verdienstmöglichkeit fanden.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Bauhandwerkern, was zur Folge hatte, dass immer mehr junge Männer auswärts eine Arbeitsstelle fanden, durch die nachfolgende Industrialisierung dann auch in den Fabriken und bei der Bahn. Noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert bildeten aber nach den Bauern die ungelernten Tagelöhner die größte Berufsgruppe im Dorf. 1884 zählte man in Güntersleben 105 Bauern oder Ökonomen, wie sich die größeren unter ihnen damals titulierten, etwa 50 selbständige Handwerker und Händler, annähernd gleich viele Bauhandwerker, aber 60 Tagelöhner, darunter auch alleinstehende Frauen, denen ohnehin kaum eine andere Erwerbsmöglichkeit blieb. Die Bauern waren im Dorf jetzt in der Minderheit.
Nach einem Einwohnerverzeichnis von 1931 waren die 96 Landwirte zwar immer noch die größte Berufsgruppe, ihr Anteil an der Gesamtzahl der 316 Berufstätigen lag jedoch nur noch bei 30 %. Nahezu unverändert nach der absoluten Anzahl mit 53 Personen hatten die selbständigen Handwerker und Gewerbetreibenden am Ort einen Anteil von 17 %. Die 167 Beschäftigten in einem abhängigen Arbeitsverhältnis waren jetzt im Dorf in der Mehrheit; davon waren 56 als Maurer oder Tüncher in der Baubranche tätig, 16 arbeiteten in der Fabrik, 13 bei der Bahn, 17 als Wald- oder Weinbergsarbeiter, aber auch 40 als Taglöhner und Hilfsarbeiter ohne festen Arbeitsplatz.
Auch als Minderheit im Dorf bestimmend
Auch als sie zahlenmäßig längst ins Hintertreffen geraten waren, behielten die Bauern im Dorf allein das Sagen, solange das Wahlrecht nur Männern und unter diesen nur denen mit eigenem Grundbesitz oder einem Gewerbe vorbehalten war. So waren bis nach dem Ersten Weltkrieg die Bürgermeister und die Mitglieder des Gemeindeausschusses, Vorläufer des Gemeinderats, ausnahmslos Bauern.
Als dann 1919 das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ohne Rücksicht auf Besitz und Einkommen eingeführt wurde, wählten die Günterslebener erst einmal auch wieder einen Bauern zum Bürgermeister und mehrheitlich Bauern in den Gemeinderat. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm 1948 für die folgenden 18 Jahre mit Karl Kunzemann erneut ein Landwirt das Amt des Bürgermeisters und Landwirte waren während dieser Zeit auch nach wie vor die größte Berufsgruppe im Gemeinderat.
Mit dem Rückzug der Bauern verblasst das Erscheinungsbild des Bauerndorfes
Derweil ging seit 1950 die Zahl der Bauernhöfe in Güntersleben erst noch langsam, dann aber in beschleunigtem Tempo zurück. Die Flurbereinigung zu Beginn der 1960er Jahre veranlasste viele Landwirte, nach heutigem Verständnis alles Kleinbauern mit weniger als 30 Hektar Betriebsfläche, ihren Betrieb spätestens mit Erreichen des Rentenalters aufzugeben. So gab es 1990 nur noch ein Dutzend hauptberuflich geführte landwirtschaftliche Betriebe und etwa die doppelte Zahl von Nebenerwerbslandwirten. Noch einmal 20 Jahre später waren 2010 nur noch 10 ortsansässige Landwirte auf der Günterslebener Flur unterwegs, nur zwei davon im Vollerwerb. Dabei ist es bis heute geblieben.
Sucht man nach einem fixen Zeitpunkt für den Umbruch, dann war das die Gemeindewahl des Jahres 1966. Seither waren die Bauern dort mit nur noch zwei und wenig später mit nur noch einem Vertreter dabei. Bei vielem anderen war es ein von vielen gar nicht so bewusst wahrgenommener, aber unaufhörlich fortschreitender Prozess, der den Abschied vom Bauerndorf sichtbar machte.
Wer sich 1960 auf den Straßen von Güntersleben bewegte, dem begegnete eher selten eines der gerade einmal 100 Autos und ein paar mehr an Motorrädern, die hier gemeldet waren. Kein Vergleich zu heute mit rund 3000 registrierten Fahrzeugen. Weit mehr traten da noch die 30 Pferdegespanne, dazu wohl doppelt so viele Kuhgespanne, aber auch schon 50 Traktoren in Erscheinung, die damals noch auf den Dorfstraßen unterwegs waren. Und auch eine Schafherde konnte noch relativ ungestört immer wieder einmal das Dorf durchqueren.
Bei den seinerzeit noch alljährlich durchgeführten Viehzählungen erfassten die amtlich bestellten Zähler 1960 noch 52 Pferde, 624 Rinder, 29 Ziegen, 936 Schweine und sage und schreibe 3115 Hühner in den Ställen und auf den Höfen sowie 87 Gänse und 50 Enten, die vorwiegend an den Böschungen und Straßengräben auf Futtersuche waren. Wer heute Pferde sehen will, muss den Pferdehof am Ortsrand aufsuchen. Rindvieh und Hühner, letztere abgesehen von wenigen Exemplaren bei einzelnen Liebhabern, findet man nur noch auf den Aussiedlerhöfen weitab vom Dorf. Die letzte Milchkuh im Dorf, wo man sich ehemals bei vielen Bauern seine Milchkanne für den täglichen Bedarf füllen lassen konnte, wurde 1999 verkauft.
Scheunen, Ställe, Futterlager und andere Nebengebäude auf den ehemals landwirtschaftlichen Hofstellen, die jetzt leer standen, wurden beseitigt oder für Wohnnutzung umgebaut. Viele Einrichtungen, die herkömmlich zu einem Bauerndorf gehörten, gibt es, jedenfalls mit ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung, nicht mehr. Die mehrere Jahrhunderte alte Zehntscheune musste 1978 einer Sparkassenfiliale weichen. Die Gemeindewaage in der Ortsmitte, auf der seit 1899 Vieh und Getreidefuhren gewogen wurden, wurde 1970 mit dem zugehörigen Waaghäuschen abgebaut. Die gemeindliche Regiestallung, im dörflichen Sprachgebrauch der Bullenstall, 1919 jenseits der Bachbrücke an der Rimparer Straße gebaut, wurde 1967 stillgelegt und später zu einem Möbelhaus umgebaut. Die Gemeinde brauchte damit auch keinen Tierpfleger mehr anzustellen. Auch den gemeindlichen Feldhüter, der Sicherheit und Ordnung in der Flur überwachte, gibt es nicht mehr. Wo seit 1938 auf dem früheren Dreschplatz eine Dreschhalle stand, steht seit 1971 die Festhalle. Der Betrieb des Lagerhauses, mit dessen Bau die Bauern 1898 den Anschluss an den regionalen Handel fanden, wurde 1992 eingestellt. Nach einem Umbau wurde es 1997 als Kultur- und Bildungshaus der Gemeinde neu eröffnet. Immerhin erinnert sein unveränderter Name noch daran, dass Güntersleben einmal ein Bauerndorf war.
Der Wandel beschränkte sich nicht auf das äußere Erscheinungsbild des Dorfes. Nachdem bis dahin die großen Schulferien in einen Sommerabschnitt für die Getreideernte und einen Herbstabschnitt zur Kartoffelernte geteilt waren, sprach sich die Schulpflegschaft nach mehreren gescheiterten Anläufen am 28. November 1964 mit 8 gegen 4 Stimmen für ungeteilte Sommerferien aus. Zur Begründung steht im Protokoll: „Die Kinder werden zur Feldarbeit nicht mehr gebraucht.“
08/2022