Das Frühmessnerhaus und die Wolfsschlucht

15. September 2021

Das Frühmessnerhaus und die Wolfsschlucht

Im Juli 2021 stand es im Pfarrbrief: Die Kirchenstiftung Güntersleben hat das sogenannte Frühmessnerhaus verkauft. Damit wurde ein neues Kapitel in der wechselvollen Geschichte dieses Hauses aufgeschlagen.

Frühmessnerhaus 2008a

Frühmessnerhaus 2008

Die Gemeindeschmiede oder Wolfsschlucht

Der älteste Teil des Hauses ist der Gewölbekeller im Untergeschoss. Betritt man ihn durch den Zugang von der Josef-Weber-Straße, steht man in der früheren Gemeindeschmiede. Sie wird in einer Ortsbeschreibung von 1594 zum ersten Mal genannt. Wie lange es sie bis dahin schon gab, weiß man nicht. Sie war eine Einrichtung der Gemeinde, die sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer für drei oder zuletzt auch mehr Jahre an einen Schmied verpachtete, der meistens von auswärts kam. 1824 heiratete Johann Wolf aus Veitshöchheim die Witwe des jung verstorbenen Gemeindeschmieds und übernahm damit auch die Schmiede. Obwohl er auch nur drei Jahre sein Handwerk dort ausübte, ist die Schmiedsstube im Dorf seitdem bis heute als Wolfsschlucht bekannt.

 

Wolfsschlucht 2 Verkleinert

Im Gewölbekeller hinter dieser Türe war bis 1906 die frühere Gemeindeschmiede

Erstes Rathaus von Güntersleben

1731 überbaute die Gemeinde die Schmiede mit dem Haus, wie es – in seiner äußeren Form kaum verändert – heute noch dort steht. Mit seiner Größe war es für die damaligen Verhältnisse ein stattliches Bauwerk. Die immer noch lesbare Inschrift über der Eingangstüre an der Stirnseite weist das Baujahr und die Bestimmung des Hauses aus: „Zur grösseren Ehr Gottes für die gemeine Wohlfart erbaut 1731.“ Was die Gemeinde gebaut hatte, war demnach das erste Rathaus von Güntersleben.

Im Geschoss über der Schmiede war der Ratssaal. Hier tagte der Schultheiß mit den Mitgliedern des Gerichts, wurden die Gemeindeversammlungen abgehalten und Verhandlungen geführt. Im Stockwerk darüber wohnten der Schmied und immer wieder auch andere Handwerker oder Familien aus dem Dorf.

Die Madonna mit dem lutschenden Kind

Um 1757 ließ der damalige Pfarrer P. Ignatius Gropp die große Treppe anlegen, die zur Kirche hinaufführt. Am Fuße des Aufgangs ließ er zu beiden Seiten in Mauernischen lebensgroße Heiligenfiguren einstellen. Rechts ist das St. Stephanus, der Patron des Klosters, dem er angehörte. Links steht in der Nische an der Ecke der Schmiede eine Madonna mit Kind.

Gropp berichtet, dass er die Madonna aus eigenen Mitteln beschafft habe, lässt uns aber nicht wissen, woher. Denn die Figur wurde nach sachverständigem Urteil bereits um 1390 geschaffen und gehört zu einem Typus, der seinen Ursprung im Rheinland hat. Das Besondere an der Darstellung ist das Kind, das an einem Finger lutscht, eine lebensnahe und sehr vermenschlichte Ausdrucksform, wie man sie vergleichsweise sonst eher nicht findet.

1909 bot ein Kunstliebhaber aus Würzburg der damaligen Eigentümerin des Hauses 800 Mark für die Madonna. Das entsprach annähernd dem Jahresverdienst eines Handwerksgesellen. Gemeinsam gelang es dem Bürgermeister und dem Pfarrer, die Eigentümerin dahin zu bewegen, dass sie das Angebot ausschlug und die Madonna für 250 Mark an die Gemeinde verkaufte. Immer noch viel Geld, das es sich die Gemeinde kosten ließ, um das wertvolle Kunstwerk am Ort zu erhalten. 1930 schenkte sie es der Pfarrei. Aus Sorge um ihre Sicherheit erhielt die Originalfigur 1957 einen neuen Platz in der Kirche. Am ursprünglichen Standort ist seitdem eine Kopie zu sehen.

Schule und Lehrerwohnung

Nachdem der Platz in der Dorfschule im heutigen Alten Rathaus nicht mehr für alle Kinder ausreichte, brauchte die Gemeinde 1821 ein weiteres Unterrichtslokal. Mangels anderer Möglichkeiten nahm man dafür das Sitzungszimmer im Rathaus und fand dort auch noch eine kleine Kammer als Wohnung für den zweiten Lehrer, den man jetzt brauchte. Das Klassenzimmer im Sitzungssaal war nur eine Notlösung, und eine schlechte dazu, wie man einem Visitationsbericht von 1835 entnehmen kann. Der Vertreter der Aufsichtsbehörde legte der Gemeinde ans Herz, „sobald als möglich eine zweckmäßige Gestaltung der Schul-Lokalitäten herbei­zuführen, insbesondere das Ungereimte zu entfernen, dass in dem Gemeindezimmer die Schule gehalten und der Unterricht durch den im nämlichen Hause wohnenden Gemeindeschmied und einen Leinenweber gestört werde.“

Armenhaus

1838 baute die Gemeinde ein neues und größeres Schulhaus neben der Kirche, das heutige Kolpinghaus. Da war dann Platz für beide Schulklassen. Eigentlich hätte sich die Gemeindeverwaltung jetzt in ihrem Rathaus ausbreiten können. Doch sie zog es vor, in das ebenfalls frei gewordene alte Schulhaus am Kirchplatz, das heutige Alte Rathaus, umzuziehen, das damit zum zweiten Rathaus von Güntersleben wurde.

Das bisherige Rathaus über der Schmiede erhielt eine neue Zweckbestimmung als Armenhaus. Die Gemeinde brachte dort – meist alleinstehende und ältere – Ortsbewohner unter, die keine eigene Unterkunft hatten und sich eine solche auch nicht leisten konnten.

Verkauf an den Schmied

Nachdem die Gemeinde 1852 das bisherige Hirtenhaus am Kuhhaug, in der heutigen Neubergstraße, als Armenhaus hergerichtet hatte, hatte sie keine Verwendung mehr für ihr früheres Rathaus über der Schmiede. Sie verkaufte es daher samt der Schmiede an den damaligen Gemeindeschmied Adam Rothenhöfer.

Nach dem Tod von Adam Rothenhöfer kaufte der Schmied Georg Kuhn 1878 das Anwesen mit dem Haus und der Schmiede. Als der 1896 verstarb, verpachteten seine Nachkommen die Schmiede nochmals. Mit Liberat Derlet aus der Rhön endete 1906 die Geschichte der früheren Gemeindeschmiede.

Frühmessnerhaus

1904 wollte die Gemeinde ihr früheres Rathaus zurückkaufen, um dort wieder mit der Gemeindeverwaltung einzuziehen. Doch die Verhandlungen zerschlugen sich. Erfolgreicher war 1929 die Kirchenverwaltung. Sie konnte das Haus von den Geschwistern Georg Kuhn und Katharina Herbst, Nachkommen des früheren Schmieds, erwerben.

Die Pfarrei kaufte das Haus, um eine Wohnung für einen Ruhestandspriester zu haben, der neben anderen Gottesdiensten am Sonntag die Frühmesse halten sollte. Auch wenn Güntersleben seit 1956 keinen – wie man ihn im Dorf nannte –  „Frühmessner“ mehr hat, hat sich die Bezeichnung Frühmessnerhaus bis heute gehalten.

Das Haus war schon 1929 nicht mehr im besten Stand. So musste die Pfarrei zum Kaufpreis von 8.500 Mark weitere 18.000 Mark an Renovierungskosten aufbringen. Bewältigen konnte sie das nur, weil sich zahlreiche Ortsbewohner mit Geldspenden oder mit der Überlassung von Grundstücken beteiligten, deren Verkauf dann ebenfalls zur Finanzierung beitrug.

Soweit die Räume im Frühmessnerhaus nicht für die Wohnung gebraucht oder vom bisherigen Eigentümer vereinbarungsgemäß weiter bewohnt wurden, wusste man diese auch anderweitig zu nutzen. Es gab einen Saal und Räume für die Jugend und für die Proben des Kirchenchors, der als einzige örtliche Vereinigung während der NS-Zeit außerhalb der Parteistrukturen geduldet war.

Luftschutzwachlokal

Am 12. September 1940 unterzeichneten der Pfarrer und der amtierende Bürgermeister eine Vereinbarung des Inhalts, dass die Kirchenverwaltung „auf unbestimmte Zeit, d.h. solange ein Bedürfnis besteht, der Gemeinde Güntersleben den untersten Raum des Frühmessnerhauses, die ehemalige Gemeindeschmiede ‚Wolfsschlucht‘ genannt, als Warte- und Aufenthaltsraum für die Wachtposten des Luftschutzes“ überlässt. Der Mietpreis wurde auf monatlich 5.- RM festgelegt.

Das Bedürfnis bestand für die Dauer des Krieges. Im Wechsel waren jede Nacht mehrere Männer, oft auch Jugendliche, als Luftschutzwächter eingeteilt. Wenn drohende Luftangriffe gemeldet wurden, mussten sie die Bevölkerung alarmieren. Dazu hatten sie eine transportable Sirene, die sie mit einer Handkurbel in Gang setzten.

Am Ende des Krieges waren sämtliche Räume des Frühmessnerhauses wie alle Häuser im Dorf bis in den letzten Winkel mit Evakuierten aus den zerstörten Städten und Vertriebenen belegt. Für einige Zeit war auch in der Wolfsschlucht eine Familie untergebracht.

Schreibwaren, Pfarrbücherei, Kinderlädchen

Auch nach der Normalisierung der Verhältnisse blieb es dabei, dass das Frühmessnerhaus in den oberen Stockwerken nur noch für Wohnzwecke genutzt wurde.

Die Wolfsschlucht mietete 1953 der Schreibwarenhändler Karl Weißenberger. 1960 folgte ihm als Mieter ein Herrenfriseur und 1974 zog die Pfarrbücherei dort ein. Schließlich war der Gewölbekeller, in dem nichts mehr daran erinnert, dass er über Jahrhunderte eine Schmiede war, dann noch für einige Zeit ein Kinderkleiderladen, bevor ihn die Kolpingsfamilie als Lagerraum übernahm.

Das Ortsbild prägend und baugeschichtlich bedeutsam

Die Pfarrkirche und das sie umgebende Ensemble spiegeln in ihrer Entstehung und Entwicklung wesentliche Abschnitte der bekannten Ortsgeschichte von Güntersleben wider. Die große Freitreppe mit den Bauwerken, die sie flankieren, und dem Kirchturm im Hintergrund, ist das klassische Motiv von Güntersleben für Maler und Fotografen. Das Frühmessnerhaus gehört, ungeachtet aller Veränderungen in seiner Bestimmung und Nutzung, die es wie kein zweites Gebäude in Güntersleben immer wieder erfahren hat, unübersehbar zu diesem Ensemble.

09/2021