Dorfnamen und Sippennamen
Es gibt Zeitgenossen, die sind uns unter ihrem Künstlernamen, einem Spitznamen oder einem von ihrer Tätigkeit, ihrem Erscheinungsbild oder Verhalten abgeleiteten anderen Beinamen besser vertraut als mit ihrem richtigen Namen. Auch im Dorf hatte man früher für einzelne Personen oder ganze Familien oft eigene Bezeichnungen, die anstelle des Namens gebraucht wurden, den sie seit ihrer Geburt trugen.
Diese Dorf- oder Sippennamen dienten vor allem dazu, namensgleiche Personen zu unterscheiden und zu erkennen, zu welcher Familie sie gehörten. Denn Einwohner mit gleichen Namen gab es immer wieder und das gar nicht zu selten.
Wenige Familiennamen und wenige Vornamen
Solange das Dorf noch eine weitgehend geschlossene Welt für sich war, blieb die Anzahl unterschiedlicher Familiennamen überschaubar. 1830 waren es bei 900 Einwohnern gerade einmal 75 und 1930 bei 1400 Einwohnern auch nur 116. Zum Vergleich heute: Die 4500 Einwohner tragen nahezu 1300 unterschiedliche Familiennamen.
Ähnlich das Bild bei den Vornamen: Beim Blick auf das Einwohnerverzeichnis von 1830 findet man nur 57 unterschiedliche Vornamen, davon 36 männlich und 21 weiblich. Heute lässt sich die Anzahl unterschiedlicher Vornamen kaum mehr überblicken, zumal es auch fortwährend mehr werden.
Bei der Vielfalt und der Fantasie, die Eltern heute bei der Namenswahl für ihre Kinder entwickeln, findet man daher im Dorf auch nur noch selten Einwohner mit gleichen Familien- und Vornamen.
Hieß jedoch jemand vor 80, 100 oder 200 Jahren mit Familiennamen zum Beispiel Kuhn und mit Vornamen auch noch Johann, Michael oder Georg, dann blieb es kaum aus, dass er noch einen oder mehrere Namensvetter im Dorf hatte. Auch bei anderen Namensverbindungen kam das häufig vor.
Im amtlichen Schriftverkehr bediente man sich verschiedener Möglichkeiten, um namensgleiche Personen zu unterscheiden. Man fügte den Namen des Vaters oder andere Unterscheidungsmerkmale wie alt, jung und bei Bedarf auch jüngster oder – beim Ältesten beginnend –fortlaufende römische Ziffern hinzu. Dauerhafte Klarheit erreichte man damit aber nicht, denn nach dem Tod des Ältesten rückten die Nachfolgenden auf und wurden dann statt unter jung jetzt unter alt oder mit einer anderen Ziffer geführt.
Leichter eingängig und beständiger waren da die Dorf- oder Sippennamen, die im Alltagsleben gebraucht wurden, um bei namensgleichen Mitbürgern zu wissen, wer gemeint war und welcher Familie er zugehörte. Diese ortstypischen Bezeichnungen entwickelten sich aus dem mündlichen Sprachgebrauch und folgten daher keinen vorgegebenen Regeln. Anknüpfungspunkte konnten Abstammung, Herkunft, Beruf oder die äußere Erscheinung der betreffenden Personen sein. Hatte sich auf diese Weise erst einmal ein Dorfname herausgebildet, konnte der sehr langlebig sein, wurde über die Generationen weitergegeben, so dass viele der Betroffenen oft nicht mehr wussten, wo er seinen Ursprung hatte.
Die Kuhn-Familien und ihre Dorfnamen
Keinen Namen gibt es länger und häufiger in der bekannten Geschichte Günterslebens als Kuhn. Es ist der typische Günterslebener Familienname. Fast alle, die diesen Namen tragen, sind wohl irgendwie miteinander verwandt. Aber bei der weiten Verzweigung über mehr als 400 Jahre wird dabei vielfach keine Verwandtschaft mehr empfunden, wie man sie üblicherweise versteht. Zur Unterscheidung und Abgrenzung der zahlreichen Familien haben sich gerade für die Träger des Namens Kuhn eine ganze Reihe von Sippennamen herausgebildet, die bis vor wenigen Jahren auch noch durchgängig im Sprachgebrauch lebendig waren.
Spohr oder in der fränkischen Verkleinerungsform Spöhrli, wie sie auch bei den meisten anderen Dorfnamen verwendet wird, nannte man die Kinder und dann auch die Enkel und fernere Nachkommen von Anna Maria Kuhn (1785 – 1828), die bis zu ihrer Heirat mit Georg Kuhn im Jahr 1812 mit ihrem Geburtsnamen Spohr hieß. Dass bis in die sechste Generation nach ihr ihre Nachkommen ungeachtet ihres eigentlichen Familiennamens Kuhn im Dorf unter dem schon lange nicht mehr existierenden Namen Spohr bekannt waren, zeigt die Langlebigkeit von Dorfnamen, auch wenn sie in keinem amtlichen Register fortgeschrieben sind.
Zum Schwarztares wurde im Volksmund Maternus Kuhn (1764 – 1837), um ihn von einem nahezu gleichaltrigen Namensvetter zu unterscheiden. Schwarz bezieht sich wohl auf seine Haarfarbe und tares ist eine Verkürzung von Maternus. Noch heute kennt man seine Nachkommen unter dieser volkstümlichen Bezeichnung.
Der Tasepeter und der Tasemichel waren die Söhne des anderen Maternus Kuhn (1756 – 1814), der zur Zeit des Schwarztares lebte. Da Peter Kuhn und Michael Kuhn nicht gerade seltene Namenskombinationen bildeten, waren sie des Maternus Peter und des Maternus Michael oder in einer weiteren Kurzvariante des väterlichen Vornamens der Tasepeter und der Tasemichel. Beide Dorfnamen waren noch bis ins fortgeschrittene 20. Jahrhundert in Umlauf, ohne dass ihre Adressaten zuletzt noch wussten, wie diese zustande gekommen waren.
Die Martinspeterli und die Martinsmärtli bekamen ihre Dorfnamen nach Peter Kuhn und Martin (Märtle) Kuhn, dem Sohn und dem Enkel von Martin Kuhn (1819 – 1864).
Die Schmiedsappel sind die Nachkommen von Appolonia Kuhn (1833 – 1904). Die Appel, so ihr umgangssprachlicher Kurzname, war die Tochter des Dorfschmieds und damit war die Namensverbindung geradezu vorgegeben.
Schulz wurde zum Dorfnamen seiner Nachkommen durch Georg Kuhn, der von 1860 bis 1866 Ortsvorsteher von Güntersleben war. Wie für andere Ortsvorsteher und nach ihnen die Bürgermeister war im Dorf noch längere Zeit die frühere Amtsbezeichnung Schultheiß oder Schulz gebräuchlich. Ein Enkel von Georg Kuhn war der Omnibusunternehmer Ludwig Kuhn (1904 – 1964), den kaum jemand anders als den Schulze-Lubber kannte.
Doktor nannte man im Dorf den Bader Valentin Kuhn (1836 – 1926), der sich nicht nur des Bart- und Haarschmucks seiner Mitbürger annahm, sondern auch einige medizinische Kenntnisse besaß. Der durch Volkes Stimme verliehene Ehrentitel ging auch auf seine Kinder und Enkel über. Ältere kennen noch die Doktersch Tilla (1903 – 1981).
Viele weitere Dorfnamen nach Abstammung und Herkunft
Nicht immer stand die Unterscheidung von gleichnamigen Zeitgenossen bei der Herausbildung von Dorfnamen im Vordergrund.
Die Jakli bekamen ihren Dorfnamen nach ihrem Stammvater Jakob Ziegler. Geboren in Thüngen, wurde er 1821 mit seiner Heirat in Güntersleben ansässig. Er brachte nicht nur einen bislang hier nicht bekannten Familiennamen mit, auch sein Vorname Jakob war hier äußerst selten. Dafür gab es durch seine zahlreichen Nachkommen in den folgenden Generationen bald viele Jakli in Güntersleben.
Die Riegeli sind nach ihrer Abstammung eigentlich auch Jakli. Es sind die Nachkommen von Adam Ziegler (1855 -1918), einem Enkel von Jakob Ziegler, aus seinen beiden Ehen mit Katharina Kuhn und Theresia Köhler. Die Mutter von Katharina Kuhn hatte in zweiter Ehe Andreas Riegel (1825 – 1900) aus Retzstadt geheiratet. Der blieb selbst zwar kinderlos. Sein Familienname ging aber über seine Stieftochter im Volksmund auf alle Nachkommen von Adam Ziegler über. Die dörflichen Gepflogenheiten folgen manchmal seltsamen Umwegen.
Wie die Weippert zu diesem Dorfnamen kamen, bleibt am Ende gänzlich rätselhaft. Ihr richtiger Familienname lautet Issing und sie sind die Nachkommen von Matthäus Issing (1840 – 1920) und seiner Frau Katharina (1848 – 1913). Die Mutter von Katharina war nicht verheiratet, ihr Vater wurde amtlich nicht festgestellt. Der Dorftratsch schien aber zu wissen, um wen es sich handelte, und bedachte Katharina und deren Nachkommen mit dem Namen Weippert. Da es niemand mit diesem Namen in Güntersleben gab, muss der – so die Mutmaßung stimmt – wohl aus einer Nachbargemeinde gekommen sein.
Zu Varschbocherli wurden die Nachkommen von Lorenz Köhler (1799 – 1860), weil dieser aus Versbach stammte. Als er 1825 durch seine Heirat Günterslebener wurde, gab es hier schon einen Lorenz Köhler. So blieb der Zugezogene der Versbacher und damit wusste man, wer von beiden gemeint war und konnte mit dieser Bezeichnung auch die Angehörigen der nachfolgenden Generationen richtig zuordnen.
Dass in einer von Männern dominierten Landgemeinde auch Frauen zu Namensgebern für Familienstämme werden konnten, zeigen die folgenden Beispiele: Die Nachkommen von Lorenz und Philippina Kunzemann waren im Dorf die Pinali und die Nachkommen von Adam und Thekla Öhrlein die Thekli. Mit ein Grund dafür mag gewesen sein, dass die beiden Frauen, die 1849 aus Versbach bzw. 1880 aus Gramschatz einheirateten, Vornamen trugen, die man bis dahin in Güntersleben nicht kannte und die damit besondere Aufmerksamkeit fanden.
Die Wirtli und andere vom Beruf abgeleitete Dorfnamen
Dass umgangssprachliche Namensbildungen an die berufliche Tätigkeit anknüpfen, ist naheliegend. In den meisten Fällen werden diese dann aber nur für die jeweiligen Personen verwendet. Für viele andere lassen sich dazu aus der jüngeren Zeit anführen: der Wagner Vinzenz Schneider, genannt Wagnersvinz (wobei schon der Vater Wagner war) und der Spengler Vinzenz Issing, genannt Blechvinz.
In anderen Fällen wurde die Berufsbezeichnung eines Ahnherrn als Sippenname an die Angehörigen der nachfolgenden Generationen weitergegeben, auch wenn diese mit dem betreffenden Beruf noch nie etwas zu tun hatten.
Wirtli gehört wohl zu den bekanntesten Dorfnamen. Er geht auf Valentin Schömig aus Rimpar zurück, der 1769 die Hirschenwirtschaft in der Ortsmitte von Güntersleben übernahm, die über vier weitere Generationen bis 1968 in der Familie blieb. Außer den vier Wirten des Hirschen waren alle anderen Angehörigen der mittlerweile weit verzweigten Familie Bauern oder gehen anderen Berufen nach, waren und sind aber für die alteingesessenen Günterslebener alle Wirtli.
Wie ihr Dorfname Zieglerschwarz entstanden ist, weiß vermutlich kaum noch jemand von den dazu gezählten Familien, deren bürgerlicher Name Kilian lautet. Der Name geht zurück auf Michael Kilian (1701 – 1769), ehedem Besitzer und Betreiber der Ziegelhütte am Rimparer Berg und – wie man vermuten darf – auffallend durch seine schwarze Haarfarbe.
Als Rechner war Franz Issing (1894 – 1986) wohl den meisten im Dorf besser bekannt als mit seinem bürgerlichen Namen. Zu dem Beinamen, der dann auch auf seine Söhne überging, kam er durch seine zeitweilige Tätigkeit als Kassenverwalter des örtlichen Darlehnskassenvereins in den 1930er Jahren.
Die Zeit der Dorfnamen ist vorbei
Die Zahl der Dorfnamen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben und mehr oder weniger lange Bestand hatten, ist kaum überschaubar. Bei manchen, die hier nicht aufgeführt wurden, ist ihre Herleitung auch nicht mehr nachvollziehbar.
Geht man nur zwei oder vielleicht drei Jahrzehnte zurück, waren diejenigen, die ihre familiären Wurzeln in Güntersleben haben, mit vielen der überlieferten Dorfnamen noch vertraut und machten davon immer noch Gebrauch.
Heute hört man die Dorfnamen nur noch selten. Wo sich die Zusammensetzung der Einwohnerschaft beständig ändert und die Einbindung in die Dorfgemeinschaft lockert, da können nur in der Alltagssprache verankerte Dorfnamen auch keinen Bestand mehr haben. Zudem werden sie bei der gegen früher unvergleichlich größeren Vielfalt und damit Unterscheidbarkeit der individuellen Namen auch nicht mehr wirklich gebraucht.
01/2024